Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

10 EINLEITUNG es ab Juni 1948 oftmals ummaterielle Interessen. So wollten Land- wirte kein Land abgeben, auf das die angesichts der großen Woh- nungsnot zahlreichen Bauwilligen so dringend angewiesen waren. Dabei fanden sich gerade die Gemeindeverwaltungen oft zwischen sämtlichen Stühlen der einzelnen Interessengruppen, die ihrerseits argwöhnisch darüber wachten, wer womit bedacht und wessen Anträge mit welchen Begründungen abgelehnt wurden. Einhei- mische klagten dabei zumeist ihre angestammten „Rechte“ ein, während die Vertriebenen auf ihr jeweiliges Schicksal hinwiesen und auf Unterstützung pochten. Dabei darf nicht übersehen wer- den, dass in den Verwaltungen, Gemeinderäten und Ausschüssen die Vertreter der Alteingesessenen stets deutlich in der Mehrheit waren. Und die meisten von ihnen strebten ihre Wiederwahl an. – All das nur einige der zahlreichen möglichen Gründe, warum das Thema „Flucht und Vertreibung“ in der kommunalen Über- lieferung eher geringen Niederschlag gefunden hat. Hätte man ei- nemAutoren dieMöglichkeit eingeräumt, sich seinUntersuchungs- gebiet auf der Grundlage der vor Ort verfügbaren Quellen auszusuchen, wäre das Jüchener Beispiel wohl nicht näher unter- sucht worden. DIE ZEITZEUGEN Zum Glück gibt es an den damaligen Geschehnissen unmittelbar beteiligte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die die Bereitschaft er- klärten, ihre Erfahrungen und Einschätzungen mit anderen zu tei- len. Das gilt insbesondere für jene, die ihre angestammte Heimat als Kinder verlassen und sich in gänzlich anderen, zumeist ärmli- chen und oft abweisenden Umgebungen zurechtfinden mussten. Sie, von denen in der vorliegenden Publikation einige ausführlich portraitiert werden, stellen sozusagen das „Bindeglieder“ dar, da sich in ihren Erzählungen Erinnerungen an den ehemals deutschen Osten, das damalige Flucht- und Vertreibungserleben sowie die an- schließenden Erfahrungen im zunächst unbekanntenWesten bün- deln und verdichten. Zugleich aber steht jede einzelne dieser Lebensgeschichten für sich, weil es „das“ exemplarische Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen nicht gibt. Es hing von zahlreichen äußeren, aber auch inneren Faktoren ab, wie schwer es Betroffenen fiel, ihr Heim- weh zu überwinden und wie es ihnen gelang, sich der ungewohnten Umgebung anzupassen oder sich gar in sie zu integrieren. 24 Es wurde aber versucht, ein relativ breites räumliches und auch zeitli- ches Spektrum abzudecken: Die früheste Fluchtbewegung setzte – demVormarsch der Roten Armee entsprechend – inOstpreußen ein. Mit dem Vorrücken der Front wurden immer neue Gegenden hiervon ergriffen. Hier seien Danzig, Hinterpommern, das Sude- tenland und Schlesien genannt. Die Flucht war in vielen Fällen je- doch lediglich der erste Schritt, dem die baldige Rückkehr in die Heimatorte folgte. Damit wuchs die Hoffnung auf einen dauer- haften Verbleib, die sich dann aber zerschlug und in einen oft im Wortsinn schmerzhaften Vertreibungsprozess mündete. Aber auch dann war keineswegs ein graderWeg RichtungWesten vorgezeich- net. Für nicht wenige endete die Flucht zunächst mit einemmehr- jährigen Aufenthalt in Lagern in Dänemark, andere führte der Weg zunächst in die sowjetisch besetzte Zone (SBZ). Aus vielen von ihnen wurden Ende der 1940er und in den 1950er-Jahre dann „SBZ-Flüchtlinge“. Einige der ungezählten Irrungen und Wirrungen dieses Ge- samtprozesses werden in den hier vorgestellten sieben Lebensge- schichten und dem Bericht von Fritz Stöckel angesprochen und erläutert. Das gilt nicht zuletzt für die Ängste, die die Betroffenen in den verschiedenen Phasen ihres Vertreibungsschicksals durch- leben mussten. Dabei ist von Hunger und Tod die Rede, von Be- drohungen und Vergewaltigungen, von Hilflosigkeit und Ausge- liefertsein. Aber auch im Westen wurden die Befragten nach den zuvor erfahrenen Traumatisierungen zumeist nicht mit offenen Armen, sondern mit häufig aggressiver Ablehnung empfangen. Andererseits gab es auch immer wieder schöne und berührende Situationen, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. Und auch die nach 1989 zur Regel werdenden Besuche in den altenHeimatorten und die oftmals herzlichen Begegnungen mit den neuen Bewohnern der Elternhäuser werden thematisiert und kommentiert. Diese Reisen in die Vergangenheit traten die ehemals Vertrie- benen in aller Regel mit ihren Kindern oder Enkeln an. Ohnehin stellt sich die Frage, wie das große Familienthema „Flucht und Ver- treibung“ auf die imWesten geborenen Angehörigen der 2. und 3. Generation abfärbten. Machten sie sich die Sicht- und Verhaltens- weisen ihrer Eltern und Großeltern zu eigen oder fanden sie ihren eigenen Umgang mit diesem Phänomen? Auch dieser Frage wird in einigen der Lebensgeschichten nachgegangen – natürlich ohne jeden Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Noch ein letzter Punkt sei in diesem Kontext kurz angerissen. Es dürfte – leider – bis heute für das von Vorsicht, Anpassungsbe- reitschaft und Zurückhaltung geprägte Selbstbild von Flüchtlingen und Vertriebenen bezeichnend sein, dass sich nicht wenige von Ihnen selbst heute im hohen Alter noch scheuen, in diesem Zu- sammenhang in Erscheinung zu treten. Die Reaktionen auf ver- schiedene Aufrufe zur Teilnahme amProjekt erreichten bei Weitem nicht die erwartete Zahl. Dabei waren es nicht die mit solchen Begegnungen verknüpften psychischen Belastungen, die zu solcher Abstinenz führten, wenn auch stets zu berücksichtigen ist, dass imRahmen der Gespräche häufig alte „Wunden“ wieder aufgerissen und Traumata reaktiviert werden. Eine offenbar mindestens ebenso große Hürde stellte das Bestreben dar, noch immer nicht öffentlich als Flüchtling oder Vertriebener zu erscheinen. „Mein Mann möchte das nicht“, war in diesem Zusammenhang ein zentraler Grund für eine Absage. Aus solchen Erwägungen heraus machten einige Zeitzeugen ihre Teilnahme am Projekt von der Verschleie-

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