Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

Eines Tages trifft die langersehnte Mitteilung ein, wo sich die Großeltern aufhalten. Weil sie im Sudetenland in einem anderen Dorf wohnten, wurden sie auch in einem anderen Lager inter- niert und anschließend an einen anderen Ort transportiert. Es gelingt ihnen schnell, den alten Kontakt zur Familie des früheren Gutsverwalters Meising in Jüchen herzustellen, die ihnen eine 100 AUS DEM LEBEN VON WERNER SCHUH „Wir waren ja froh, dass wir überhaupt was zu essen hatten.“ – Leben in Lindenau Aufgrund der gesamten Umstände, insbesondere aber wohl wegen der ausgeprägten Mangelernährung, so erzählt Werner Schuh noch heute tief bewegt, sei er derart schwer erkrankt, dass man ihn ins 25 Kilometer von Lindenau entfernte Kran- kenhaus habe einliefern müssen. Dort wird fast sein gesamter Oberkörper eingegipst, so dass sich der Achtjährige kaum noch bewegen kann. Der einzige kleine Lichtblick in dieser Zeit sind die sonntäglichen Besuche der gesundheitlich ebenfalls beeinträchtigten Mutter, die den weiten Weg häufig zu Fuß be- wältigen muss. „Sie hat sich mal ein Fahrrad geliehen. Und wenn wir nichts hatten, dann ist sie zu Fuß gegangen.“ Zum Glück für Werner bestätigt sich der Verdacht auf Tuber- kulose nicht. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt darf er endlich wieder nach Hause. Auch den Transport ihres stark geschwächten Sohns muss die Mutter selbstständig organisieren. ImNachbarort macht sie einen LKW-Fahrer ausfindig, der Kohlen und Koks transportiert. Als er eine Fuhre in die Nähe des Kran- kenhauses hat, wirdWerner kurzerhand auf die harte und schmut- zige Ladefläche gelegt und nach Lindenau mitgenommen. An das Leben im Ort hat Werner Schuh zwiespältige Erin- nerungen, weil sich die Einheimischen gegenüber den Neuan- kömmlingen „sehr verschieden“ verhalten: „Die Jüngeren waren freundlicher, und die Älteren waren oft sehr unfreundlich.“ Die Ansprüche der Schuhs sind ohnehin nicht hoch. „Wir waren ja froh, dass wir überhaupt was zu essen hatten.“ Nahrungsmittel seien nämlich zumeist ebenso knapp gewesen wie Hausbrand. Daher sammeln die vier Familienmitglieder regelmäßig Holz, um ihr kleines Zimmerchen beheizen und auch kochen zu kön- nen. „Das ging dann. Da haben wir uns selbst mit versorgt“, fasst Werner Schuh die existenzbedrohenden Versorgungs- engpässe erstaunlich sachlich zusammen. Es wird jede Mög- lichkeit genutzt, den häuslichen Speiseplan anzureichern. So werden im Sommer Pilze gesammelt. Alles in allem, so das ver- söhnliche Resümee, habe man sich in Lindenau schließlich „gut eingelebt“. Das geschieht für Werner im Übrigen zunächst nach wie vor ohne Schulbesuch. Der sei erst nach „einer gewissen Zeit“ wieder obligatorisch geworden, erinnert er sich an die lange Phase seines Unterrichtsausfalls. Familie Schuh bleibt von 1945 bis 1949 in Lindenau, zieht in dieser Zeit allerdings in eine größere Wohnung um. Werner hilft neben dem Schulbesuch in dieser Zeit wie die übrigen Famili- enmitglieder zur Verbesserung der familiären Versorgungslage bei einem ortsansässigen Bauern. Rosa Schuh und ihre Kinder (v.l.n.r.) Christa, Edeltraud und Werner – vermutlich in Lindenau, um 1948/49 Wohngelegenheit zusichert. Daraufhin wird ihnen umgehend eine Zuzugsgenehmigung an den Niederrhein ausgestellt. Kaum ist der Kontakt zu den Großeltern wieder hergestellt, denkt auch Familie Schuh intensiv über einen Wechsel nach Jüchen nach. „Das musste ja alles erst organisiert werden. Wir waren da ja unter russischer Flagge“, umreißt Werner Schuh „Und dann sind wir einfach rübergegangen. Da waren wir weg.“ – Nach Jüchen

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