Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

103 AUS DEM LEBEN VON WERNER SCHUH In der Schule ist die Behandlung des Neuankömmlings „ver- schieden“ - aber: „Die meisten waren uns wohlgesonnen.“ Na- türlich habe es auch hier immer wieder Mitschüler und Lehrer gegeben, die auf die Flüchtlinge herabschaut hätten. „Das ha- ben wir schon gespürt – auch in der Schule. Da waren schon welche, die waren sehr, sehr hässlich.“ In einigen Fällen sei es auch zu Handgreiflichkeiten unter den Kindern und Jugendli- chen gekommen. „Aber man musste sich eben wehren. Da bin ich schon mit fertig geworden“, umschreibt Werner Schuh sei- nen Durchsetzungswillen. Vorteilhaft wirkt sich für die Schuhs die Aufnahme im ange- sehenen Hause Meising aus. Das führt automatisch dazu, dass Familienangehörige in Jüchen mit einem gewissen „standing“ auftreten können und sozial eher akzeptiert werden als andere Zugezogene. Das wiederum bringt es mit sich, dass die Ver- sorgung mit Gebrauchsgegenständen – wie etwa heißbegehr- ten Schuhen – relativ gut ausfällt. Eine solche Unterstützung haben die Schuhs aber auch dringend nötig, denn Mutter Rosa bezieht als Witwe mit drei minderjährigen Kindern anfangs le- diglich eine monatliche Rente von 130 DM sowie Kindergeld. Dieses schmale Budget bessert sie durch Näh- und Ausbes- serungsarbeiten für Ortsansässige auf. „Meine Mutter, die konnte alles.“ „Ich war körperlich fit und konnte arbeiten.“ – Ausbildung und Beruf „Ich habe mich direkt in die Arbeit gestürzt.“ – Angekommen? Schon unmittelbar nach der Ankunft in Jüchen trägt auch Wer- ner zum Familienunterhalt bei, indem er während der Schulzeit wieder bei verschiedenen Bauern als Aushilfe arbeitet. Daher fällt ihm – natürlich auch aufgrund seiner Herkunft von einem Bauernhof - der Berufswunsch leicht: Er möchte Landwirt wer- den. Nach Abschluss der Schule absolviert er eine entspre- chende Lehre auf einem Hof in der Nachbargemeinde Prieste- rath, auf die er sich gut vorbereitet zeigt. „Als ich in die Lehre kam, das hat mir ja überhaupt nichts ausgemacht. Ich war kör- perlich fit und konnte arbeiten. Ich konnte alles mitmachen.“ Gerade in dieser Zeit der Ausbildung und der Orientierung empfindet Werner das Fehlen des Vaters als besonders schmerzlich. „Mein Vater hat mir sehr gefehlt, das muss ich sagen. Den habe ich immer vermisst“, blickt er noch heute weh- mütig zurück. Zwar habe er sich mit Mutter und Schwestern über den Verlust manchmal austauschen können, doch habe das die schmerzliche Lücke nicht schließen können. Außerdem belastet die Unsicherheit über das tatsächliche Schicksal des Ehemanns und Vaters die Familie permanent. Erst nach langer Zeit kann sich Werners Mutter dazu durchringen, ihren Mann für tot erklären zu lassen. „Es ist wohl von anderen erzählt worden, dass die alle nicht mehr aus dem Lager rausgekommen sind“ – das ist alles, was Werner Schuh bis heute über den Tod seines Vaters Willi in Erfahrung bringen kann. „Die Ungewissheit war immer da, und wenn man nachts wach wurde, hat man oft daran gedacht.“ Durch die landwirtschaftliche Ausbildung und die Berufsschule lernt Werner schnell neue Bekannte kennen. „Ich habe Freunde gehabt, mit denen ich was unternommen habe. Das ging dann eigentlich gut“, lautet das vorwiegend positive Fazit seiner schrittweisen Integration in Jüchen und in die rheinische Le- bensart. Ganz im Gegensatz zu seiner älteren Schwester Christa, die es „sehr schwer“ gehabt habe. „Die konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass wir die Heimat verlassen mussten. Die konnte sich nicht umstellen. Der Mumm hat ihr gefehlt. Die hat das nicht überwunden.“ Werner selbst wählt einen anderen Weg. „Ich habe mich di- rekt in die Arbeit gestürzt. Ich habe versucht, immer was zu tun.“ Dabei hilft ihm seine Begeisterung für die Landwirtschaft und insbesondere seine Affinität zu Pferden. „Ich war ein Pfer- denarr, und das ist bis heute so geblieben.“ Dabei spielen wohl auch Erinnerungen an die Kindheit auf dem elterlichen Hof eine nicht unerhebliche Rolle. „Als ich zuhause war und mit meinem Vater ins Feld fuhr und ein Pferdefuhrwerk kam: ich wusste genau, wem die Pferde gehörten. Das hat sich bei mir eingeprägt. Ich war mit dem Land verbunden.“ Die Folgen wer- den Werner Schuhs weiteres Leben bestimmen. „Ich war Bauer durch und durch.“ Nach einem anderthalbjährigen beruflichen Intermezzo in Niederbayern, wohin er nach Abschluss seiner Ausbildung ge- gangen ist, kehrt Werner nach Jüchen zurück, wo er eine Tä- tigkeit als Verwalter auf einem Hof übernimmt, auf dem auch Pferde stehen. Endlich kann er nun auch selbst reiten, tritt in den Reiterverein ein und nimmt an Turnieren teil. „Das war gut. Dadurch habe ich viele Freunde und Bekannte gehabt.“ Ohnehin leisten nach eigenem Bekunden die Vereine eine erhebliche Hilfestellung bei seiner Integration in die örtliche Gemeinschaft und die rheinische Mentalität. „Ich war im Jü- chener Schützenverein“, erzählt er. Als Mitglied des Reiterzugs nimmt er regelmäßig an den Umzügen teil. Nicht zuletzt durch die verschiedenen Vereinszugehörigkeiten, so resümiert er, sei er schließlich zum Jüchener geworden.

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