Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
108 AUS DEM LEBEN VON WOLFGANG KUHN Sohn zunächst weiterhin in dem Schatzlarer Ortsteil Schwarz- wasser (heute: Č erná Voda), dem Geburtsort ihres Mannes, wo ihr das tschechische „Nationale revolutionäre Komitee Schwarzwasser“ unter dem Datum vom 1. Juni 1945 einen Aus- weis ausstellt. Bereits zwei Monate später wird ihr am 1. August 1945 der Räumungsbefehl zugestellt. Innerhalb von nur 25 Mi- nuten muss sie ihr Haus mit höchstens 25 Kilogramm Gepäck verlassen. Wertgegenstände müssen - bis auf Verlobungsring und eine Uhr – zurückbleiben, sämtliche Wohnungsschlüssel abgeliefert werden. Ob dieser Räumungsbefehl tatsächlich zur Durchführung kommt, ist nicht endgültig gesichert, aber sehr wahrscheinlich. Dann aber klafft zwischen der Vertreibung aus dem Sudeten- land und der offiziellen Registrierung in Döbrichau bei Torgau ein ungeklärter Zeitraum von rund neun Monaten, denn erst am 29. April 1946 wird Frieda Kuhn vom „Amt der Arbeit“ in Torgau eine „Dauerkontrollkarte“ ausgestellt, am 26. Mai dann die offizielle „Registrierkarte“ der Gemeinde Döbrichsau. Alles, was ihm und seiner Mutter zwischen dem 1. August 1945 und dem 29. April 1946 widerfuhr, wird für Wolfgang Kuhn wohl für immer im Dunkeln bleiben. Auch über andere Dinge wird in der Familie später nie mehr gesprochen. So ist Wolfgang Kuhn bis heute unbekannt, welche politische Einstellung sein Vater vor 1945 vertreten hat, wie er zum NS-Regime stand, wie zur Okkupation des Sudetenlandes im Jahr 1938. Auch diese Themen stellen wie der Komplex von Flucht und Vertreibung zeitlebens ein innerfamiliäres Tabu dar. „Mir ging es da gut“ – Erinnerungen an Pritzier Wolfgangs Leben, das heißt das, an was er sich erinnern kann oder worüber später im Familienkreis gesprochen wird, beginnt eigentlich erst im Herbst 1946. Nachdem sein Vater den Auf- enthaltsort von Ehefrau und Sohn ermittelt hat, setzt er alles daran, die Familie wieder zusammenzuführen. Am 17. Septem- ber 1946 erteilt die Gemeindeverwaltung von Pritzier im Bezirk Schwerin, wohin es ihn – ebenfalls unter ungeklärten Bedin- gungen - nach seiner Entlassung aus der tschechischen Inter- nierung verschlagen hat, eine Zuzugsgenehmigung, die es er- möglicht, Ehefrau Frieda und Sohn Wolfgang aus Döberichau nach Mecklenburg zu holen. Erst mit der Ankunft in Pritzier setzten Wolfgang Kuhns Kind- heitserinnerungen ein. Vater Raimund ist hier auf einem „volks- eigenen“ Gut als Schlosser beschäftigt und bewohnt mit vielen anderen Geflohenen und Vertriebenen im ehemaligen Herren- haus ein kleines Zimmer. In diesem Zimmer „unten rechts“ wer- den nun auch Wolfgang und seine Mutter untergebracht. „Hier haben wir geschlafen, hier wurde gekocht.“ Die Beengtheit empfindet der fast Dreijährige jedoch nicht als störend. „Mir ging es da gut“, betont Wolfgang Kuhn rückblickend. Es sind insbesondere die für ihn völlig neuen und zuvor ungeahnten Möglichkeiten, die das Gut als riesengroßer Spielplatz bietet: „Wir haben da Verstecken gespielt mit den großen Kindern, wir waren bis nachts draußen im Dunkeln.“ Überall gibt es etwas zu entdecken und manchmal auch – wie die in großen Mieten lagernden Möhren – etwas zu essen. Als besonders attraktiv erleben die Kinder die große Scheune, die spannende, wenn auch nicht immer ungefährliche Möglichkeiten für Spiel und Spaß bietet. Vater Kuhn ist ein kreativer Schlossermeister, der seinem Sohn nicht nur mit einfachsten Mitteln ein Fahrrad baut und ihm das Fahren darauf beibringt, sondern er ist auch in anderer Hinsicht findig. Er konstruiert eine Ölmühle, in der dann zur Öl- gewinnung die von der Familie gesammelten Bucheckern aus- presst werden. „Mit diesem Öl haben wir dann Plinsen geba- cken, also Reibekuchen.“ 1947 wird es für einige Zeit noch enger. „Onkel Lenz“, ein Bruder der Mutter, hat die Kuhns in Pritzier ausfindig gemacht und zieht mit in das ohnehin schon mehr als enge Zimmerchen, wo er sich mit Wolfgang ein Bett teilt. Weil er, der im Krieg einen Arm verloren hat, aufgrund dieser körperlichen Einschrän- kung in der sowjetisch besetzten Zone keine Unterstützung erfahren habe, so erzählt es Wolfgang Kuhn, sei er nach einiger Zeit „in den Westen“ gewechselt, wo er einen Arbeitsplatz in der Münchener Löwenbrauerei findet. Dort wird ihm auch ein „Sauerbruch-Arm“ angepasst, der ihn in die Lage versetzt, wie- Die Zuzugsgenehmigung nach Pritzier
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