Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

11 EINLEITUNG rung ihrer Identität abhängig. Leider wurde in diesen Fällen - wenn auch schwerenHerzens - auf eine Zusammenarbeit verzichtet. Weil dieses Buch eben auch dabei helfenmöchte, damalige (und heutige) Flüchtlinge von ihrem Stigma zu befreien, wäre jede Form einer solchen Anonymisierung kontraproduktiv gewesen. Es darf heute doch nicht mehr als öffentlicher Makel empfunden werden, geflo- hen oder vertrieben worden zu sein! Wegen der skizzierten Quellenlage erschien es wünschenswert, „auch eingeborene“ Jüchener zu Wort kommen zu lassen. Um das ohnehin schon voluminöse Vorhaben nicht vollends ausufern zu lassen, galt es sich in diesem Punkt jedoch zu bescheiden, ohne auf Wesentliches zu verzichten. So wie Betroffene hier aus subjektiver Sicht ihre unterschiedlichen Erfahrungen als Flüchtlinge und Ver- triebene schildern, kommen daher mit Irmgard Coenen und Hu- bert Knabben zwei Ur-Jüchener zuWort. Beide sind im Jahr 1935 geboren, wohnten zeitlebens im Herzen der Gemeinde amMarkt bzw. in der Steinstraße und verfügen über ein ausgezeichnetes Ge- dächtnis. Beide erlebten den Tag der Besetzung Jüchens am 28. Februar 1945 ebenso mit, wie sie später die Ankunft und die Be- handlung von Geflohenen und Vertriebenen beobachteten. An- dererseits unterscheiden sich Irmgard Coenen und Hubert Knab- ben in einem wesentlichen Punkt, der damals gravierende Auswirkungen zeitigen konnte: Während sie evangelisch ist, gehört er der katholischen Kirche an. Alle Gemeinsamkeiten und Unter- schiede zusammengenommen lassen beide zu nahezu idealen Be- richterstattern über die Situation in Jüchen bei Kriegsende werden, zu Beobachtern der Aufnahme und Behandlung von Flüchtlingen sowie zu Chronisten einer schrittweisen Normalisierung der Ver- hältnisse. DIE FOTOS Fotos sollten in historischen Darstellungen kein bloßes Beiwerk sein, sondern als wichtige Quellen verstanden werden. Grundvo- raussetzung ist dabei naheliegender Weise, dass es überhaupt Ab- bildungen gibt, die das Geschriebene veranschaulichen und ergänzen. Hierfür liegt im Rahmen der vorliegenden Abhandlung nur sehr wenig Material vor. Es gibt zwar punktuell Ereignisse oder Themen, die auf Film gebannt wurden und überliefert sind – als herausragendes, hier ausführlich dokumentiertes Beispiel kann die Besetzung Jüchens durch US-Truppen gelten -, doch sowohl wäh- rend der Kriegsendphase als dann auch in den ersten Nachkriegs- jahren sahen sich die Menschen mit schier unüberwindlich erscheinenden Problemlagen konfrontiert und hatten sicherlich anderes im Sinn, als die sie umgebende Not im Bild festzuhalten. Das galt erst Recht für die Flüchtlinge und Vertriebenen, denen es praktisch an allem mangelte. Und außerdem: Warum sollte man Massenunterkünfte und zu improvisierten Wohnungen umfunk- tionierte Ställe, Keller oder Dachböden fotografieren. Sich das ei- gene Elend vor Augen zu führen, war für die Betroffenen beileibe nicht wünschenswert, und an die folgenden Generationen in einem prosperierenden Deutschland dachte damals wohl kaum jemand. So werden etwa die hier präsentierten Lebensgeschichten zumeist nur bis zur frühen Kindheit in den alten Heimatregionen bildlich begleitet, während Flucht und Vertreibung von keiner der hier por- traitierten Familien auch nur mit einemBild dokumentiert worden wären. Das gilt auch für die ersten Jahre am Niederrhein, so dass die beklagenswerte optische Lücke zugleich auch als Beleg für die schwierige Situation der Menschen verstanden werden kann. Dennoch soll nicht darauf verzichtet werden, die Notlagen nach Ankunft imWesten auch im Bild vor Augen zu führen. Das geschieht hier durch Fotos aus Westfalen, kennt soziale Not doch keine geografischen Grenzen. In den ersten Nachkriegsjahren be- gleitete der Lippstädter Fotograf Walter Nies Vertreter der zur Un- terstützung von Flüchtlingen im Erzbistum Paderborn ins Leben gerufenen katholischen „Osthilfe“ in Auffanglager und Notunter- künfte und dokumentierte die Not der Vertriebenen mit seiner Kamera. Die so entstandenen Aufnahmen werden im Stadtarchiv Lippstadt aufbewahrt, das für die vorliegende Publikation eine Auswahl großzügig zur Verfügung stellte. DIE STRUKTUR Wie eingangs erwähnt, möchte diese Untersuchung einen umfas- senden Überblick über möglichst viele Aspekte geben, die bei einer Beschäftigung mit demThema „Flucht und Vertreibung“ zumVer- ständnis beitragen. In welcher Abfolge dieses hochgesteckte Ziel erreicht werden soll, gilt es in einem kurzen Überblick zu skizzie- ren. Zuvor sei aber deutlich hervorgehoben, um was es im Folgen- den keinesfalls gehen wird: um eine Auseinandersetzung um „Opfer“ und „Täter“ einschließlich der damit verknüpften altbe- kannten Schuldzuweisungen. Eine solche Polarisierung hat in der Vergangenheit oft genug die Atmosphäre vergiftet und Gespräche über ein produktives Miteinander im Keim erstickt. Es steht zu hoffen, dass die Offenheit, mit der die hier porträtierten Zeitzeu- ginnen und Zeitzeugen bei ihren „Reisen in die Vergangenheit“ ihrer altenHeimat und den nunmehr dortWohnenden begegneten und mit ihnen kommunizierten, auch auf die Leser dieser Unter- suchung abfärben wird! Die Darstellung wird sich zunächst ausführlich mit den Rah- menbedingungen auseinandersetzen, mit denen sich die Menschen damals in Ost undWest konfrontiert sahen. Nur auf einer solchen Grundlage können die Fluchtschicksale, aber auch die Reaktionen der Menschen am Niederrhein auf den unerwarteten Massenan- sturm verstanden und eingeordnet werden. Um das noch besser zu gewährleisten, werden an verschiedenen Stellen „Info-Kästen“ eingeschoben, die zumVerständnis notwendige Sachverhalte kurz und knapp auf den Punkt zu bringen versuchen. Abgeschlossen

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