Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

110 AUS DEM LEBEN VON WOLFGANG KUHN 1949 wird Wolfgang Kuhn in Pritzier eingeschult. Die beiden Schuljahre, die er hier erlebt, seien schön gewesen, erinnert er sich gern zurück. Allerdings sieht sich der Sechsjährige bald mit Konflikten konfrontiert, die er noch nicht verstehen kann, deren Hintergründe ihm aber auch nicht erklärt werden. In der Schule, so die rückblickende Erzählung, seien an die Schüler häufiger Blätter mit ansprechenden Zeichnungen ausgegeben worden: „So schön bunt gedruckte Hammer und Sichel, schöne Zeichen. Die sahen schön aus, auch mit Schwarz-Rot-Gold.“ Immer, wenn er diese Blätter mit nach Hause gebracht habe, habe sein Vater sie stillschweigend verschwinden lassen. „Ich habe da also nicht viel Freude dran gehabt.“ Richtig unangenehm wird es für Wolfgang, als die Schüler anlässlich des „Tages der Freundschaft“ ein Blatt mit einer pa- piernen Friedenstaube erhalten, die sie zuhause ausschneiden und auf ihren Schulranzen kleben sollen. Auch das verhindert sein Vater: „Das kommt gar nicht in Frage! Wir sind da nicht für. Sagst Du dem Lehrer, wir können keine Friedenstaube an- kleben, denn das Paket aus dem Westen ist noch nicht da, mit dem wir Klebstoff erwarten. Also geht das nicht.“ Wolfgang Kuhn ist sich recht sicher, dass er das dann dem Lehrer an- derntags auch genauso mitgeteilt habe, ohne sich allerdings an eventuelle Folgen erinnern zu können. Mit dem Vater kommt es in einem weiteren Punkt zu Mei- nungsverschiedenheiten. „Die Älteren waren schon bei den Pionieren, und ich wollte auch dazu gehören.“ Mitglied bei den im Dezember 1948 ins Leben gerufenen „Jungpionieren“ wer- den Schüler vom 1. bis zum 3. Schuljahr. Als Zeichen ihrer Zu- gehörigkeit tragen sie bei besonderen Anlässen blaue Halstü- cher und erhalten einen „Pionierausweis“. Dafür, so Wolfgang Kuhn, habe er damals zu Hause gekämpft und seitens der Schule auch bereits die notwendigen Anmeldeunterlagen sowie Halstuch und Ausweis erhalten. Obwohl noch nicht offiziell auf- genommen, sei er darauf sehr stolz gewesen. So stolz, dass er diese Insignien des Dazugehörens auch bei der späteren Flucht nach West-Berlin mitnimmt. Als er sie dann voller Stolz dort Gleichaltrigen zeigt, löst er Entsetzen aus: „Das darfst Du hier nicht haben. Dann kommst Du ins Ge- fängnis!“ Die Wirkung auf Wolfgang ist durchschlagend: „Da habe ich das schnell zerrissen und weggeschmissen.“ „Wir können keine Friedenstaube ankleben.“ – Schule in Pritzier Wolfgang Kuhn (oben 4.v.l.) mit seiner Schulklasse in Pritzier, um 1950

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