Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

112 AUS DEM LEBEN VON WOLFGANG KUHN der Vater aber darauf besteht, machen sich beide auf den nächtlichen Weg zum Bahnhof, wo der Vater – wohl zur Ver- schleierung des Fluchtgedankens - zunächst Fahrkarten nach Wittenberge kauft. Den anschließenden Fluchtweg kann Wolf- gang Kuhn zwar bis heute nicht genau rekonstruieren, aber mit West-Berlin das vorläufige Ziel benennen, wo die beiden Kuhns wohlbehalten ankommen. Vater Raimund setzt alles daran, nicht in ein Flüchtlingsheim eingewiesen zu werden und schafft es, für etwa sechs Wochen eine kleine Wohnung anzumieten. Hier genießt Wolfgang den Berliner Sommer, denn die Nichten der Vermieterin nehmen ihn mit zum Baden an den Wannsee. Außerdem erinnert er sich vor allem ans Roller-Fahren in den Straßen von Charlottenburg, wo er mit neuen Freunden die Nebenstraßen im Umfeld der Wohnung erkundet. Währenddessen macht sich sein Vater jeden Tag auf den Weg in die Kuno-Fischer-Straße 8, wo zwischen 1950 und 1953 die „Notaufnahmestelle für Flüchtlinge aus der DDR“ ihren Sitz hat, bei der Zuzugsgenehmigungen nach Westdeutschland be- antragt werden können. Dazu muss man einen konkreten An- laufpunkt und möglichst auch eine Arbeitsstelle nachweisen können. Beides kann Raimund Kuhn bieten: Seine Schwägerin Martha gewährt eine Unterkunft in Wollrode, und ein ehemaliger Bergwerksdirektor aus Schatzlar, den es ins Siegerland ver- schlagen hat, vermittelt ihm dort eine Arbeitsstelle. „Nach sechs Wochen hatten wir die Zuzugsgenehmigung und durften von West-Berlin nach Westdeutschland ausreisen.“ Das geschieht per Flugzeug nach Hannover und von dort zu „Tante Martha“ nach Wollrode. „Wir fahren zu Deinem Bruder und Tante Martha.“ – Politik und Flucht Das Verhältnis seines Vaters zum SED-Regime sei, darin ist sich Wolfgang Kuhn sicher, zumindest „kritisch“ gewesen. Gleichgül- tig, was in der Schule hinsichtlich Politik und DDR-Gesellschaft gelehrt worden sei, habe sein Vater postwendend abgelehnt. „Der hatte das nicht gerne und war dann am Schimpfen.“ Diese kritische Einstellung schlägt sich auch im Verhalten von Raimund Kuhn nieder. Er habe sich für die Belange der Flüchtlinge in Pritzier eingesetzt, was seitens der örtlichen Par- teileitung negativ bewertet worden sei. Auch hier hilft die in der Gemeindeverwaltung beschäftigte Tochter der Familie Di- komey, indem sie Wolfgangs Vater warnt, dass über ihn ge- sprochen würde und er nicht gut gelitten sei. Das ist dann wahrscheinlich der Auslöser für den Entschluss von Raimund Kuhn, die DDR zu verlassen. Das Vorhaben dürfte aber schon zuvor recht konkrete Formen angenommen hat; zumindest deu- tet der Wechsel von Sohn Harry nach Wollrode hierauf hin. Es müssen jedoch zunächst die Voraussetzungen geschaf- fen werden, was angesichts des zusehends eskalierenden „Kal- ten Krieges“ kein einfaches Unterfangen darstellt. Weil Vater Raimund die entsprechenden Vorbereitungen im Geheimen trifft und auch später nie mit seinem Sohn darüber spricht, müssen die Begleitumstände des Wechsels nach West-Berlin im Dunkeln bleiben. „Das kam für mich plötzlich. Ich habe davon zuvor nichts mitgekriegt“, erzählt Wolfgang Kuhn. So viel je- denfalls ist klar: „Es waren Schulferien, und eines Nachts weckt er mich und sagt: ‚Wir stehen jetzt auf. Wir fahren zu Deinem Bruder und Tante Martha.‘“ Wolfgang will zunächst nicht. Das ginge nicht, erklärt er dem Vater, denn er sei doch mit der Schule im Feriencamp, wo auch noch seine Sachen seien. Als „Bei meiner Tante hatte ich eine wunderbare Zeit.“ – In Wollrode Die Unterbringung im kleinen nordhessischen Dorf Wollrode ist nicht eben komfortabel, denn die Tante ist als Vertriebene mit ihren Kindern und der Oma eher notdürftig in zwei Zimmern auf einem Bauernhof untergebracht. Die Enge wird noch spür- barer, als sich im Februar 1952 der kleine Harry hinzugesellt. Nun kommt Wolfgang noch als weiterer Bewohner hinzu, was sein Wohlbefinden am neuen Wohnort aber nicht schmälert. Im Gegenteil: „Bei meiner Tante hatte ich eine wunderbare Zeit“, lautet das rückblickende Urteil. Sie habe für ihn und seinen Bruder gesorgt und sie nichts davon merken lassen, dass sie nicht ihre eigenen Kinder gewesen seien. Allerdings sind Wolfgang und sein Bruder nun zunächst auch vaterlos, denn Raimund Kuhn reist umgehend nach Siegen weiter, um dort seine Arbeitsstelle anzutreten. Von dort schickt er regel- mäßig Geld zum Unterhalt seiner Söhne. Als es dabei einmal aus unbekannten Gründen zu Stockungen kommt, droht die Tante damit, Wolfgang und Harry in einen Zug Richtung Siegen zu setzen. Auch wenn diese Drohung wohl nicht ernst gemeint ist, löst sie bei Wolfgang erhebliche Ängste aus. Nur allzu häufig hat er in seinem jungen Leben bis dahin Ortswechsel und Ver- luste von vertrauten Personen verkraften müssen. Trotz aller Fürsorge seitens der Tante sieht sich Wolfgang im dörflichen Alltag wieder weitgehend auf sich alleingestellt. „Da kommt man als Neuling an“, umschreibt er rückblickend den Neuanfang in Wollrode, „und die anderen Kinder pflaumen einen an.“ Er versucht sich auf die einzige ihm mögliche Art zu wehren: „Da habe ich was Schlimmes sagen wollen und habe zu einem von denen gesagt: ‚Du Affenpintscher!‘“ Es ist das Schrecklichste, was ihm in diesem Augenblick einfällt, zeigt al- lerdings nicht das erhoffte Ergebnis. Zwar zeigen sich die Woll-

RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=