Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

113 AUS DEM LEBEN VON WOLFGANG KUHN roder Jungen von dem ihnen unbekannten Begriff kurzzeitig beeindruckt, nutzen ihn dann aber selbst auf eine Art, mit der Wolfgang nicht gerechnet hat: „Nun nannten sie mich ‚Affen- pintscher‘. Jetzt hatte ich den Spitznamen am Hals.“ In der Schule erlebt der Neuankömmling dann in seinen Au- gen Eigenartiges. Er wird in die 3. Klasse der zwei Klassen- räume umfassenden Schule eingegliedert. „Das war wirklich erstaunlich, dass ich da jetzt einen Griffel und eine Schiefertafel mit Schwämmchen kaufen musste, was ich in der DDR ja schon längst abgelegt hatte. Da haben wir ab dem 2. Schuljahr mit Federhalter und Tintenfass ins Heft geschrieben. Das war ein Rückschritt, ein Kulturschock.“ Trotz aller Anfangsschwierigkeiten wird Wolfgang in Woll- rode schnell akzeptiert. Dazu trägt sicherlich bei, dass seine Lehrerin ihn bald zum „Bürgermeister“ – also zum Klassen- sprecher - ernennt. „Das hieß für mich, ich bin anerkannt, und ich lass mir auch nichts gefallen. Das merken die, und ich kann mich durchsetzen“, umreißt Wolfgang Kuhn seine damalige Ge- mütslage. Tatsächlich gestaltet sich das Verhältnis zu den Klas- senkameraden während der gesamten Zeit in Wollrode derart positiv, dass er noch heute zu einigen von ihnen Kontakt unter- hält. Auch sonst wird ihm im Ort offenbar Sympathie entge- gengebracht. „Die Frau des Lehrers hat mir sogar einen Pullover gestrickt, mir Flüchtlingskind“, betont er noch heute positiv be- rührt – auch wenn das Geschenk sehr stark gekratzt habe. Of- fenbar verfolgt sie damit aber auch weitergehende Absichten. Die kinderlose Frau, so erfährt Wolfgang Kuhn erst sehr viel später, habe bei seiner Tante um Vermittlung gebeten, ob der verwitwete Vater vielleicht bereit sei, seinen älteren Sohn zur Adoption freizugeben. „Den brauche ich nicht zu fragen. Das würde der nie tun“, habe seine Tante darauf knapp und deutlich geantwortet. Wolfgang Kuhn mit Bruder Harry, um 1952 „Das war schlimm!“ – Nach Priesterath Nach gut einem Jahr endet für den nun Zehnjährigen auch die Wollroder Zeit wieder recht abrupt. Sein Vater, da ist sich Wolf- gang Kuhn sicher, habe damals unter erheblichem Stress ge- standen, denn er habe wegen der Kinder eine neue Frau finden müssen, was für einen mittellosen Flüchtling nicht eben einfach gewesen sei. Zum Glück habe er dann aber mit „Schwester Barbara“ seine künftige Stiefmutter kennengelernt, die damals als Hebamme in Priesterath tätig gewesen sei. Die Söhne sehen sich mit vollendeten Tatsachen konfrontiert: Raimund Kuhn findet eine Arbeitsstelle als Schlosser in der Ma- schinenfabrik Buckau R. Wolf in Grevenbroich und heiratet Bar- bara. „Wie das dann hier so in Ordnung war“, holen sie Wolfgang und Harry aus dem ihnen mittlerweile so vertrauten Wollrode in das völlig unbekannte Priesterath. Das sei „schon alles in Ord- nung“ gewesen, urteilt Wolfgang Kuhn rückblickend, wobei man ihm aber in dieser Hinsicht noch heute eine gewisse Distanz und auch eine Art von Unwohlsein anmerkt. „Das war schlimm“, sind die ersten und zentralen Worte, mit denen Wolfgang Kuhn auf die Frage antwortet, wie denn damals das Gefühl gegenüber der so plötzlich in seinem jungen Leben erschienen Stiefmutter gewesen sei. Schlimm ist es insbeson- dere deshalb, weil ihm schnell bewusst wird, dass „Schwester Barbara“, wie er sie noch heute häufig nennt, „nicht meine Mut- ter und nicht meine Tante“ ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Stiefmutter als ausgebildete Krankenschwester und Heb- amme einen nicht eben „zimperlichen“ Umgang pflegt. Zugleich räumt Wolfgang Kuhn aber ein, dass sie sicherlich „nur das Beste“ für ihn und seinen kleinen Bruder angestrebt habe. Den Neubeginn in der Priesterather Volksschule erlebt Wolf- gang hingegen als Erfolg. „Ja, da war dann wieder alles neu.“

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