Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
114 AUS DEM LEBEN VON WOLFGANG KUHN Als er an seinem ersten Schultag zur Tafel gerufen wird und dort ein Wort nach dem anderen anschreiben muss, bis er die halbe Fläche gefüllt hat, ist er zunächst irritiert. „Dann schreib ich wieder ein Wort, und dann ist da ein Fehler drin. ‚Aaaah!‘ Da ging ein Aufatmen durch die Klasse: ‚Endlich hat er mal was falsch gemacht!‘“ Offenbar liegt sein Kenntnisstand trotz aller fluchtbedingten Unterbrechungen und Schulwechsel weit über dem der ortsansässigen Kinder. Insgesamt, so betont Wolfgang Kuhn rückschauend, habe sich aber auch in Priesterath ein gu- tes Verhältnis zu den Mitschülern entwickelt. Zudem habe Leh- rer Martin es gut mit ihm gemeint und ihn dadurch gefördert, dass er ihn regelmäßig einmal wöchentlich per Fahrrad mit nach Garzweiler zum „Landwirtschaftsunterricht“ genommen habe. Der Lehrer sieht das als Vorbereitung für den Besuch des Gymnasiums. Auch in anderer Hinsicht hat Wolfgang Glück: Er ist katho- lisch! Die daraus erwachsenden Vorteile bemerkt er bei einem gemeinsam mit seinem Bruder unternommenen Ausflug nach Jüchen. Hier droht nämlich schnell Ungemach. Als er sich mit Harry an der Hand durch die Kasterstraße dem Markt nähert, treffen sie auf mehrere spielende Jungen. Die etwa Gleichaltri- gen unterbrechen ihr Spiel und laufen auf die Brüder zu: „Seid ihr evangelisch oder katholisch?“ Glücklicherweise kann Wolf- gang wahrheitsgemäß die in diesem Augenblick richtige Ant- wort geben: „‚Katholisch.‘ ‚Ja, dann dürfen wir euch nichts tun. Sonst hättet ihr Prügel gekriegt.‘ Ja, da waren wir natürlich glücklich.“ Später, so erzählt Wolfgang Kuhn weiter, sei er mit dem da- maligen Wortführer im gleichen Schützenzug aktiv gewesen. Als er ihn einmal auf den bei ihm nach wie vor tief sitzenden Vorfall angesprochen habe, habe der nunmehrige Freund ge- antwortet: „Ja, ja, das war so. Wenn Du evangelisch gewesen wärest, hättest Du Prügel gekriegt.“ – Man kann sich leicht aus- malen, wie es jenen Mädchen und Jungen ergangen sein wird, die den Jüchener Markt mit der „falschen“ Konfession und ohne erwachsenen Beistand in jenen Jahren passiert haben. „Wieder ein Abschied für immer!“ – Umzug nach Jüchen Kurz darauf wird Wolfgang selbst zum Jüchener. Vater und Stiefmutter kaufen nach vergeblicher Bewerbung um eine „Siedlerstelle“ um 1955 im Ort nämlich ein altes Haus. Damit steht für den erst Elfjährigen bereits der fünfte Ortswechsel bevor. Die Eltern hätten sich „ein eigenes Dach über dem Kopf“ gewünscht. Da stört es unter den damaligen Umständen im Nachkriegsdeutschland nicht, dass das Haus nicht nur klein und renovierungsbedürftig, sondern teilweise auch noch ver- mietet ist. An Enge ist man nach all den von Flucht und Orts- wechseln geprägten Jahren hinlänglich gewöhnt, während Wolf- gang bis dahin aber nie erfahren konnte, was „Eigentum“ eigentlich heißt. Der Umzug nach Jüchen steht unter ungünstigeren Vorzei- chen als frühere Ortswechsel, weil Wolfgang dieses Mal nicht auf die Schule als Ort von Integration und Anerkennung zu- rückgreifen kann. Noch von Priesterath aus ist er nämlich auf das Gymnasium in Odenkirchen gewechselt. „Deswegen hatte ich es besonders schwer, Kontakt zu bekommen“, erinnert sich Wolfgang Kuhn an die für ihn schwere Zeit nach dem Umzug zurück. „Hier kannte ich keinen.“ Da hilft es auch nur wenig, dass er sich durchaus an Spielen auf der Straße beteiligt; eine gewisse Fremdheit bleibt zunächst bestehen. „Die gingen ja alle miteinander zur Schule und ich nicht.“ Der Rückblick auf diese Zeit fällt nicht leicht. „Man gewöhnt sich daran, dass man nicht dazugehört“, lautet seine Quintes- (Vergeblicher) Antrag von Barbara Kuhn zum Erwerb einer Siedlerstelle
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