Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
117 AUS DEM LEBEN VON WOLFGANG KUHN Tatsächlich und endgültig in Jüchen „angekommen“, so erklärt Wolfgang Kuhn auf Nachfrage, sei er allerdings erst, als er ge- heiratet habe. „Aber ganz klar!“ Die Integration wird besonders dadurch erheblich erleichtert, dass seine aus dem benachbar- ten Allrath stammende Frau ein tief im katholischen Milieu ver- ankertes „rheinisches Mädchen“ ist. „Und dann habe ich mich wohlgefühlt und zuhause gefühlt.“ Immer, wenn man im Fami- lien- und Freundeskreis über das Thema „Heimat“ spreche, steht sein Standpunkt seitdem fest: „Ich kann nicht sagen: Hei- mat ist da, wo ich geboren bin. Manche sagen ja: ‚Da, wo ich geboren bin, ist meine Heimat.‘ Dann sind die aber wahrschein- lich nicht weit weg von der Heimat. Das kann ich nicht sagen. Ich kenne sie ja gar nicht. Ich bin zwar irgendwo geboren, aber dort ist nicht meine Heimat. Da gibt es ja so ein schönes Lied, das habe ich mir zu eigen gemacht: ‚Wo ich die Liebste fand, da ist mein Heimatland.‘ Und das meine ich ernst.“ Auf die Frage, ob er denn schließlich auch zu einem „richti- gen“ Einheimischen geworden sei, antwortet Wolfgang Kuhn mit einem klaren „Ja“. „Da muss ich nicht lange drüber nach- „Das war, als ich geheiratet habe.“ – Angekommen? denken. Ich bin hier in Vereinen drin, ich war 20 Jahre im Ge- meinderat.“ Aufgrund seiner verschiedenen Mitgliedschaften und Tätigkeiten, so betont er heute, habe er sich „endlich mal wohlfühlen können, ohne mich immer neu zu orientieren“. Dabei steht ihm noch heute klar seine Gefühlslage vor Augen, als er im Zuge des Kommunalwahlkampfs zum ersten Mal Plakate mit seinem Konterfei aufgehängt habe. Er habe das durchaus als eigenartig und ihn berührend empfunden, denn bei dieser Gelegenheit sei ihm nochmals klar geworden, dass er gar nicht lange Zeit zuvor noch als Flüchtling und daher als nicht gänzlich dazugehörig angesehen worden sei. Heute ist Wolfgang Kuhn Vorsitzender der Jüchener Rentner- gemeinschaft. Dieser Gruppe gehöre auch eine Frau an, die ihn noch als kleinen Jungen aus der Priesterather Zeit kenne und darauf manchmal auch anspreche. Auch das ist für ihn ein Zeichen gelungener Integration. „Ich muss für mich sagen, ich bin Jüchener geworden und fühle mich wohl. Ich bin auch an- erkannt – meine ich zumindest.“ „Da hatte ich keine wehmütigen Gefühle.“ – Reise nach Schatzlar Über das Sudetenland wird in der Familie Kuhn der 1950er und 1960er Jahre nicht offen kommuniziert. Vater Raimund spricht wenig über seine alte Heimat, obwohl er ihr - darin ist sich sein Sohn Wolfgang rückblickend sicher - innerlich offenbar stets sehr verbunden bleibt. So abonniert er etwa die „Riesenge- birgsheimat“, ein seit 1947 erscheinendes Heimatblatt für den ehemaligen sudetendeutschen Kreis Trautenau, in dem auch Schatzlar liegt. Allerdings lässt er seine Söhne in keiner Weise an seiner eigenen Vergangenheit und Herkunft Anteil nehmen. Wenn er etwas erzählt, handelt es sich laut Wolfgang Kuhns Erinnerungen zumeist um Kindheitserinnerungen, die nichts mit Flucht und Vertreibung, sondern viel mit „heiler Welt“ in Form riesiger Schneemengen und damit verknüpfter Erlebnisse zu tun haben. Für Sohn Wolfgang spielt sein Geburtsort, mit den ihn kei- nerlei eigene Erinnerungen verbinden, zunächst keine Rolle. Erst 1993 kommt ihm im Rahmen der jährlichen Urlaubspla- nungen zum Bewusstsein, dass durch den Wegfall des „Eiser- nen Vorhangs“ nun ja auch das Riesengebirge als Ziel offen- steht. Als Gemeinderatsmitglied nimmt er daher Kontakt zum Bürgermeister seines nun Žaclé ř heißenden Geburtsortes auf. Daraufhin, so erfährt Wolfgang Kuhn später, sei im Ort per Lautsprecher ausgerufen worden, dass westdeutsche Besu- cher im Ort nach eine Ferienunterkunft suchen würden. „Wer nimmt sie auf?“ Das Elternhaus in Schatzlar, 1993
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