Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
121 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE kleinen Familienbetrieb lediglich eine Magd und zur Erntezeit einige Aushilfen. „Ansonsten haben meine Eltern das ziemlich alleine gemacht“, erzählt Elisabeth Schütte und betont, dass es sich wegen des Fehlens jeglicher Maschinen um harte kör- perliche Arbeit gehandelt habe. Das Pflügen der Felder etwa wird noch mit dem Pferd erledigt. Auch die Winterzeit ist durch permanentes Arbeiten gekennzeichnet. So erinnert sich Elisa- beth Schütte noch besonders gut an das Schleißen von Gän- sefedern, die so zu Daunen verarbeitet und anschließend ver- kauft werden. Angesichts der Arbeitsbelastung werden auch Elisabeth be- reits im Alter von sechs, sieben Jahren viele Dinge zugetraut. Sie übernimmt beispielsweise die Verwahrung des Hausschlüs- sels, damit sie nachmittags, wenn die Eltern auf dem Feld ar- beiten, die Gänse füttern kann. Für die eigentliche Feldarbeit sind die beiden Müller-Kinder allerdings noch zu jung. Dafür muss Elisabeth als Ältere aber ständig auf den kleinen Bruder aufpassen. „Da war ich verantwortlich, wenn was passierte.“ Das führt durchaus auch zu körperlicher, von ihr häufig als un- gerecht empfundener Bestrafung durch die Eltern. „Die haben sich rührend um uns gekümmert.“ – Intaktes Dorfleben In Steinsdorf ist das Dorfleben noch intakt. Weil Elisabeth und Alfred im Vorschulalter nicht einfach allein gelassen werden können, wenn die Eltern auf dem Feld arbeiten, übernehmen drei ältere, miteinander verwandte Einwohner wie selbstver- ständlich die gemeinsame Kinderbetreuung: „Onkel Emil (ledig), Oma Linke (verwitwete Schwester von Emil) und Tante Kot- tusch (Nichte der beiden)“. Elisabeth Schütte erinnert sich gern zurück: „Die haben sich rührend um uns gekümmert und haben uns geliebt über alles, uns beide Kinder.“ Daher fühlen sich die Geschwister auch nie einsam oder als Schlüsselkinder. Spielen tut Elisabeth mit zwei gegenüber wohnenden Freun- dinnen auf dem Hof und auf der Straße. Spannend ist für sie auch das gemeinsame Backen in den Backhäusern, von denen es praktisch auf jedem Hof eines gibt. Reihum werden darin alle 14 Tage große runde Sauerteigbrote gebacken. Danach folgt stets der schlesische Streuselkuchen, von dem anschlie- ßend Stücke „an alle möglichen Leute, Verwandte und Nach- barn“ verteilt werden. Wenn die dann ihrerseits backen, be- denken sie die anderen Dorfbewohner. Ähnlich habe man sich, so erzählt Elisabeth Schütte, auch beim Schlachten von Schweinen und Rindern verhalten. Abwechslung ins kindliche Dorfleben bringen Besuche in der Kreisstadt Neiße, wo der Bruder von Elisabeths Vater wohnt und als Direktor der Landkrankenkasse fungiert. Er lädt seine Nichte und seinen Neffen häufiger ein, damit sie gemeinsam mit seinen Kindern Märchenaufführungen des dortigen Stadt- theaters besuchen können – für die Kinder vom Dorf natürlich stets ein großes Ereignis. Das Steinsdorfer Dorfleben funktioniert bis ins Frühjahr 1945 hinein – „bis die Russen kamen“. Zuvor ist der Ort vom Krieg weitestgehend unbeeinträchtigt geblieben. „Bei uns fielen keine Bomben. Bei uns war eigentlich noch relativer Friede, dass man also nichts vom Krieg bemerkte.“ „Meine Eltern haben da nichts mit zu tun gehabt.“ – Nationalsozialismus und Krieg Die Müllers sind eine sehr religiöse Familie. Der katholische Glaube spielt im Alltags- und Familienleben eine „Riesenrolle, eigentlich die Hauptrolle“. Diese Verankerung im katholischen Milieu bringt es laut Elisabeth Schütte auch mit sich, dass ihre Eltern „nie für Hitler“ sind. Insbesondere ihr Vater steht dem Nationalsozialismus strikt ablehnend gegenüber, was innerhalb des Dorfes zu Konflikten führt. So ist der beste Freund von Paul Müller ein begeisterter NS-Anhänger und bringt es bis zum Kreisbauernführer. „Meine Eltern haben da nichts mit zu tun gehabt, und zwar auch aus Gründen der Religion.“ „Die erste große Angst“ habe sie aufgrund der Reaktionen der Erwachsenen beim Kriegsbeginn am 1. September 1939 empfunden. „Meine Mutter schickte mich zum Kaufmann, einige Kilo Zucker als Vorrat für Notzeiten einzukaufen.“ Die Ernährung stellt dann aber bis zum Kriegsende kein Problem dar, weil mit den Erträgen aus der Landwirtschaft genügend Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. „Lediglich Wünsche, wie die nach Schlitt- schuhen - bei uns lag im Winter fünf Monate lang Schnee - wurden nicht erfüllt, da es sie einfach nicht gab und Metall für Kriegszwecke gebraucht wurde.“ Vom Krieg bemerken die Müller-Kinder zunächst fast nichts. Ihr Vetter Hans, Sohn eines weiteren, in Berlin wohnenden Bru- ders des Vaters, kommt für ein Jahr nach Steinsdorf, um den Bombenangriffen auf die Reichshauptstadt zu entgehen. Er ist genauso alt wie Elisabeth und besucht mit ihr gemeinsam die Dorfschule. „Der war eine richtig freche Berliner Göre. Völlig anders als wir zwei Kinder vom Land.“ Die Verbindung zur „großen weiten Welt“ und damit auch zum Kriegsgeschehen stellt wie in vielen Haushalten auch bei den Müllers der Volksempfänger dar. „Da hörte man natürlich alles,
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