Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

122 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE manchmal auch sehr unangenehme Dinge.“ So erinnert sich Eli- sabeth Schütte daran, dass die antisowjetische NS-Propaganda der Kriegsendphase ihre Eltern und damit auch die Kinder stark verängstigt habe: „Was die anstellen mit den Deutschen und ins- besondere den Frauen. Das war so schlimm, dass die Eltern sagten: ‚Das kann nicht stimmen. Das kann nicht wahr sein.‘“ Aufgrund seines Alters, seines Gesundheitszustandes und weil er als Bauer für die Versorgung wichtig ist, wird Paul Müller nicht zur Wehrmacht eingezogen. Gegen Kriegsende soll er dann aber doch noch zum Volkssturm einberufen werden, wozu es aber offenbar nicht mehr kommt. Allerdings taucht sein Name in den Einberufungslisten auf, weshalb er von den Russen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Steinsdorf inhaftiert und fürch- terlich „verdroschen“ wird. – Hierzu später mehr. „Da haben wir anderthalb Jahre keine Schule mehr gehabt.“ – Schule In Steinsdorf besucht Elisabeth seit 1940 die zweiklassige Volksschule, in der jeweils vier Klassen in einem Raum unter- richtet werden. Dadurch, so die rückblickende Einschätzung, habe sie durch das Beispiel und die Unterstützung der älteren Schüler und Schülerinnen sehr gut gelernt. Was sie allerdings schon damals bedauert, ist der Mangel an Büchern in ihrem bäuerlichen Elternhaus, so dass ihre Leselust und ihr Wissens- hunger ungestillt bleiben. Gegen Kriegsende weitet sich diese „geistige“ Unterversor- gung noch weiter aus. Spätestens mit dem Einzug der Roten Armee, nach Erinnerung ihres Bruders Alfred bereits seit Ende 1944, fällt der Schulunterricht aus und wird bis zur Vertreibung im Januar 1946 auch nicht mehr aufgenommen. „Da haben wir anderthalb Jahre keine Schule mehr gehabt, überhaupt keine“, stellt Elisabeth Schütte noch heute mit Bedauern fest. Sie habe damals regelrechte „Mangelerscheinungen“ gezeigt. Das ändert sich – so viel sei hier bereits vorweggenommen – auch nach der Vertreibung zunächst nicht. Die zwei Monate Unterricht in der sowjetischen Besatzungszone könne man kaum anrechnen, und nach Ankunft in Garzweiler habe sie einen Lehrer gehabt, der kurz vor der Pensionierung gestanden habe. „Der hatte kein Interesse mehr an allem. Der hat uns im Grunde nichts beigebracht. Der hat uns in seinen Garten ge- schickt und ließ uns dort Unkraut jäten.“ Hinsichtlich der Schul- bildung, so resümiert Elisabeth Schütte, seien ihr entscheidende Jahre genommen worden. „Die Straßen waren verstopft von Flüchtlingen.“ – Dem Kriegsende entgegen „Da bestand schon Angst. Auch meine Eltern hatten dann Angst“, umschreibt sie die Lage in Steinsdorf in den ersten Monaten des Jahres 1945. Viele Menschen haben sich früh- zeitig zur Flucht entschlossen, ohne dass das zu diesem Zeit- punkt eine Option für Familie Müller ist. Insbesondere Stadt- bewohner seien geflohen, „weil die keine Tiere hatten“. „Meine Eltern hätten ja die Tiere zurücklassen müssen, und das ging ja schlecht. Man kann die Tiere ja nicht einfach so verlassen, das geht nicht!“ Dass die Eltern zugleich aber zunehmend ängstlicher wer- den, spürt auch die zehnjährige Elisabeth. Dabei geht es kei- neswegs mehr um Fragen eines eventuellen „Endsiegs“ – „dass der Krieg verloren war, das sahen sie Eltern“ -, sondern um die seitens der NS-Propaganda geschürten Angst vor „dem Bol- schewismus“. Vor der Roten Armee kommen zunächst jedoch deutsche Soldaten und Flüchtlinge. Die Wehrmacht richtet Mitte Februar 1945 im Wohnzimmer der Müllers eine Schreibstube ein, was allen Beteiligten in schlechter Erinnerung bleibt. Als es nämlich Schwierigkeiten beim Anfachen des Kachelofens gibt, schüttet ein Soldat unbedacht Benzin in den Ofen, der daraufhin explo- diert und auseinanderfliegt. Einige Soldaten werden verletzt und der ehemals so schöne Kachelofen durch einen kleinen gusseisernen „Kanonenofen“ notdürftig ersetzt. Als sich die Wehrmacht vor der schnell nahenden Front zu- rückzieht, strömen immer mehr Flüchtlinge auf den Müllerschen Hof. Nun beginnt auch Paul Müller, ernsthaft über die eigene Flucht nachzudenken. „Es wurde brenzlig. Man wusste, die Russen sind nicht mehr weit, und da wollte er dann doch noch weg“. Dazu ist es aber mittlerweile zu spät. Ihr Vater habe zwar noch einen Leiterwagen zum Planwagen umfunktioniert und ein Pferd angespannt. „Da stellte sich heraus, dass man gar nicht mehr nach Westen konnte, weil da schon der Kessel zu war.“ Steinsdorf ist fast vollständig eingekesselt; es gibt nur noch ein kleines Schlupfloch nach Osten. „Das ging nicht weit. Wir sind nur bis Steinau gekommen. Auf dem Marktplatz dort hat mein Vater umgedreht, weil er sagte: ‚Das hat keinen Zweck, hier auf der Straße zu liegen, wenn die Russen kommen. Wir

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