Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
123 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE fahren wieder nach Hause.‘ Denn die Straßen waren verstopft von Flüchtlingen.“ Zurück auf dem Hof dauert das Warten nicht mehr lang. „Das war bei uns genau der 17. März, als die Russen einzogen. Das weiß ich noch sehr gut“, erinnert sich Elisabeth Schütte sehr genau an diesen schicksalhaften Tag. Als die Rote Armee herannaht, drängen die auf der Straße feststeckenden Flücht- linge in die Häuser – „die konnten ja nicht auf der Straße blei- ben“. Die Folge ist naheliegend: „Wir hatten das Haus voll mit Flüchtlingen. Die Menschen waren in einer solchen Not, dass sie in der Angst zusammenkrochen; möglichst viele, so dass man eine Art Schutz um sich hatte.“ „ ... und es begann die dramatischste Zeit unseres Lebens.“ – Einzug der Roten Armee „Am 17. März nachmittags um 5 Uhr ist der erste Russe bei uns in den Hof reinmarschiert“, hat Elisabeth Schütte das Gesche- hen noch genau vor Augen. Zu diesem Zeitpunkt halten sich in der Küche ihres Elternhauses rund 20 weitgehend unbekannte Personen auf, nach Angaben ihres Bruders Alfred „meistens Frauen, Kinder und ältere Menschen“. „Der Krieg war damit für uns zu Ende, und es begann die dramatischste Zeit unseres Lebens.“ Die Besetzung fasst Elisabeth Schütte so zusammen: „Auf unserem Hof schossen die Russen als erstes mit ihren Gewehren in die Luft. Als sie ins Haus kamen, leuchteten sie zuerst mit einer Taschenlampe alle Wände ab. Sie suchten nach Hitlerbildern, die bei uns nicht zu finden waren. Meine El- tern waren gute Katholiken und haben das gottlose Hitler-Re- gime schon aus diesen Gründen abgelehnt. Dann nahmen die Russen unseren Vater mit nach draußen. Unsere Angst war riesengroß, dass sie ihn sofort erschießen würden, wie sie es mit unserem Pfarrer gemacht hatten. Sie nahmen meinem Vater nur die Armbanduhr ab und ließen ihn dann frei.“ Trotz aller Angst stellt dieser Vorfall lediglich den vergleichs- weise harmlosen Auftakt der Besatzungszeit dar. „Dann begann der Horror und hielt über Monate an.“ Elisabeth Schütte schreibt: „Nacht für Nacht kamen die Russen in unser Haus und holten sich Frauen und Mädchen, um sie zu vergewaltigen. In ihrer Angst und Not rückten die Frauen eng zusammen. Wir krochen alle zusammen in einen Raum. In unserer großen Küche lagen die Frauen auf der Erde, auf den Bänken, unter den Bän- ken und unter dem Tisch. Ich lag ganz hinten unter der Bank, wo es am sichersten war. Wir hatten furchtbare Angst um mei- nen Vater. Er setzte sich auf einen Stuhl von innen vor die Kü- chentür. Wenn die Russen kamen, mussten sie ihn wegschieben und -drücken, um hereinzukommen. Unsere Befürchtung war, dass sie ihn deswegen erschießen würden. Ich erinnere mich, dass auch ein 17-jähriges Mädchen von den Flüchtlingen bei uns im Kartoffelkeller von den Russen ganz brutal vergewaltigt wurde. Die Frauen und Mädchen machten sich so hässlich wie möglich. Sie zogen alte Kleider an und bedeckten Kopf und Gesicht mit Tüchern. Aber auch das half ihnen nicht. Ich erin- nere mich, dass ich später, als die Flüchtlinge wieder weg wa- ren, in gleicher Weise hässlich gemacht nachts im Stroh ver- steckt in der Scheune schlief. So bin ich gottlob nie vergewaltigt worden, und meine Mutter auch nicht.“ „Und dann wussten wir nicht, wo er war.“ – Verhaftung des Vaters Kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee wird Paul Müller von russischen Soldaten abgeholt. „Und dann wussten wir nicht, wo er war.“ Elisabeth Schütte kann sich an die eigentliche Ver- haftung und deren Gründe nicht mehr richtig erinnern. Sie ver- mutet die Einberufung zum Volkssturm als zentrales Motiv. Ihr jüngerer Bruder Alfred wird in seinem Bericht konkreter: „Am Sonntag nach Ostern 1945 kamen drei schwer bewaffnete Rus- sen auf unseren Hof. Sie sperrten meine Mutter, meine Schwes- ter und mich in den Keller. Unseren Vater nahmen sie mit. Man unterstellte ihm ein Nazi zu sein und wollte ein Geständnis.“ Über die Haftzeit ihres Vaters berichtet Elisabeth Schütte: „Später erfuhren wir, dass er zusammen mit anderen Männern in den Kellern beim Getreidehändler im Dorf gefangen war und von den Russen unmenschlich behandelt und verdroschen wurde. Da der Krieg noch nicht zu Ende war, wurden die Män- ner, auch mein Vater, zum Bau von Stellungen nach Oberglogau transportiert. Die Russen rechneten wohl noch mit Gegenan- griffen der deutschen Wehrmacht.“ Viele von ihnen werden nach ihrer Verhaftung hingegen in die Sowjetunion transportiert und bleiben verschollen. Dieses Schicksal bleibt Paul Müller erspart – nicht zuletzt wohl deshalb, weil er unter großer Gefahr Mut zur Eigeninitiative fasst. Beim Stellungsbau nutzt er am 13. Mai 1945 die Gunst des Augenblicks - die wachhabenden Russen sind betrunken - und flieht unter dramatischen Umständen im Schutz der Dun- kelheit, um sich anschließend in nächtlichen Etappen zu Fuß nach Hause durchzuschlagen. Hier traut er sich zunächst nicht auf seinen Hof, weil er nicht abschätzen kann, wie die Lage
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