Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
Derweil muss der Rest der Familie hilflos miterleben, wie ihr die Existenzgrundlage entzogen wird. Etwa Mitte April kommen die sowjetischen Besatzer auf die laut Elisabeth Schütte „ver- rückte Idee“, „alles nach Russland zu transportieren“, was ihnen nützlich erscheint. „Nicht nur Klaviere, Nähmaschinen, Sofas und andere Wertgegenstände, die sie zeitweise in unserer Scheune für den Abtransport sammelten, sondern auch unser Vieh. Da unsere Kühe immer im Stall waren, war der Marsch auf den Straßen für sie vollkommen ungewohnt, und sie veren- deten reihenweise am Straßenrand. Niemand räumte die Ka- daver weg, und so breitete sich in der ganzen Gegend Typhus aus.“ Folge dieser Zustände ist eine sich schnell ausbreitende Typhus-Seuche, der viele der geschwächten Menschen zum Opfer fallen. Betroffen sind auch die beiden 18- und 22-jährigen Töchter des Nachbarhofs, deren Bruder zuvor im Krieg ums Leben gekommen ist. Ende April 1945 – Paul Müller ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurück - droht der Familie bereits neues Ungemach. Die russischen Besatzer fordern alle noch in Steinsdorf lebenden Deutschen – fast ausschließlich Alte, Frauen und Kinder - auf, das Wichtigste zu packen und ihre Häuser zu verlassen. Alfred Müller erinnert sich: „Im großen Treck zogen meine Mutter mit einer mit einigen Habseligkeiten beladenen Schubkarre, meine Schwester und ich los.“ Auch Elisabeth Schütte steht dieser „Fußmarsch nach Russland“ noch immer nur zu gut vor Augen: „Das Unternehmen musste scheitern, denn es war keine Lo- gistik hinter diesem gewaltigen Vorhaben. Im großen Treck zo- gen meine Mutter, mein Bruder und ich zusammen mit meiner Tante Martha und ihren fünf Kindern und einem von den Russen auf der Straße aufgelesenen und meiner Tante übergebenen fremden Säugling im Kinderwagen los.“ Für die Müllers endet der Weg schon nach rund zehn Kilo- metern in Korndorf (Korpitz), wo Anna wohnt, die vor ihrer Heirat als Magd auf ihrem Hof gearbeitet hat. Maria Müller mit ihren beiden und ihre Schwester Martha mit ihren fünf Kindern sowie dem ihr anvertrauten Säugling gelingt es, sich in einem unbewachten Augenblick der russischen Bewachung zu ent- ziehen und sich vom Treck zu lösen. Alle finden Aufnahme bei Anna, wo sie einige Zeit bleiben können. Nach einigen Tagen macht sich eine „Delegation“ auf den Weg zurück, um die Lage in Steinsdorf zu erkunden. Hier findet sie jedoch lediglich durchwühlte leere Häuser vor und kehrt daher nach Korndorf zurück, wo die Müllers bis zur offiziellen deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 ausharren. „Doch auch hier kamen die Russen jede Nacht und vergewaltigten die Frauen und Mädchen“, erinnert sich Elisabeth Schütte. Sie selbst sieht sich auch gefährdet: „Ich war noch keine 11 Jahre alt, aber sehr groß für mein Alter. Darum hatte meine Mutter viel Angst um mich. Aber ich bin auch hier vor dem Schlimmsten bewahrt worden.“ Ein großer Schutz sei für die Frauen der fremde Säugling gewesen, „den meine Tante Martha immer wie einen Schutzschild vor sich hielt“. 124 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE dort ist und ob man ihn sucht. Stattdessen versteckt er sich bei seiner ebenfalls in Steinsdorf wohnenden Schwester Mar- tha in der Scheune. Die versorgt in mit Lebensmitteln und ins- besondere mit allen notwendigen Informationen, bis sich Paul Müller nach Wochen des Versteckens etwa Ende Juni/Anfang Juli 1945 endlich nach Hause wagt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Wechsel von sowjetischen Besatzern zu polnischen Neu- besitzern bereits im vollen Gange. „Verrückte Idee!“ – Deportation nach Russland? Endlich zurück auf dem Hof in Steinsdorf bleibt auch nach dem offiziellen Ende des Krieges die Angst der ständige Begleiter. „In dieser Angst lebte man Tag und Nacht“, erzählt Elisabeth Schütte. Immer wieder seien neue marodierende Soldaten- trupps aufgetaucht. „Da wusste man ja nie, was die im Schilde führen und was die mit einem machen.“ „Man hatte keine Rechte mehr“, umreißt sie den völlig hilf- und ausweglosen Zu- stand der zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung. Viele Erinnerungen aus diesen Tagen haben Elisabeth Schütte tief geprägt und kommen auch heute noch „immer wieder hoch“. Das gilt ganz besonders für jene angsterfüllte Episode, in der Maria Müller und ihren völlig verängstigten Kin- dern die Erschießung angedroht wird, falls man im Haus Waffen finden würde. Sie erinnert sich: „Häufig kamen Russen auf un- seren Hof, und es war immer ungewiss, was sie im Schilde führten. Eines Tages rückten fünf Russen an. Wir mussten das Zimmer verlassen. Sie haben alles durchwühlt und mitgenom- men, was ihnen passte. Etwas später am helllichten Tag rückte wieder ein Trupp an. Sie sprachen deutsch und erklärten meiner Mutter – der Vater war noch immer verschollen: ‚Sie haben in Ihrem Haus Waffen versteckt. Wenn wir die finden, werden Sie alle erschossen!‘ Meine Mutter brachte händeringend und ver- „Man hatte keine Rechte mehr“ – Angst und Willkür
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