Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
125 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE zweifelt zum Ausdruck: ‚Wir haben keine Waffen! Glauben Sie mir doch!‘ Die Mutter und wir zwei Kinder standen im Hof wei- nend an die Hauswand gelehnt und schrien zu Gott um Hilfe, den sicheren Tod vor Augen. Denn irgendetwas Belastendes würden sie bestimmt finden, was möglicherweise die vielen Russen, die unser Haus bereits durchkämmt und durchsucht hatten, hinterlassen haben könnten. Nach einer halben Ewigkeit, Als die Müllers nach Steinsdorf zurückkehren, wird der Ort noch von der Roten Armee kontrolliert. Maria Müller sieht sich mit ihren beiden elf- und achtjährigen Kindern vor dem Nichts: „Da wir kein Vieh mehr hatten und die Felder nicht mehr bestellt wurden, gingen auch unsere Vorräte langsam zu Ende. Das, was noch da war, ermöglichte nur eine sehr karge, einseitige Ernährung“, fasst Elisabeth Schütte die alles andere als ermu- tigende Lage zusammen. Die soll sich aber noch weiter ver- schlimmern, als sich gemäß alliierter Vereinbarungen die aus Ostpolen vertriebenen Menschen nun in den ihnen zugewie- senen ehemals deutschen Gebieten anzusiedeln beginnen. „Unsere schlesische Heimat wurde also den Polen zugeteilt“, womit seit etwa Juni 1945 „eine neue, schlimme Zeit der Drang- sal“ angebrochen sei. Eines Tages erscheinen zwei polnische Brüder. „Die haben gesagt, sie seien jetzt die Herren auf dem Hof.“ Der Familie werden lediglich zwei bescheidene Zimmer zugewiesen, in de- nen auf einem kleinen Kocher auch sämtliche Mahlzeiten zu- bereitet werden müssen. Der komplette Besitz muss abgege- ben werden. „Was die Russen uns noch gelassen hatten oder was sie nicht im Versteck gefunden hatten, das nahmen uns die Polen nun weg. Sie beschlagnahmten alle unsere Vorräte. Aus dem noch verbliebenen Getreide produzierten sie Schnaps. Die gegorenen Rückstände warfen sie auf den Misthaufen auf unserem Hof, wo sie dann zum Himmel stanken.“ Die Müllers sind vollkommen hilflos: „Die hatten alles zu sagen, und wir hat- ten nichts mehr zu sagen.“ Allerdings, so betont Elisabeth Schütte, hätten die neuen Besitzer der Familie bei aller un- freundlichen Behandlung nichts angetan. Unangenehme, oft mit großer Angst verbundene Situationen gibt es hingegen reichlich. An eine Episode erinnert sich Elisa- beth Schütte noch besonders intensiv: Die zuvor von Vater Paul vergrabenen Gegenstände im Backhaus, die eingemau- erten Wertsachen unter der Kellertreppe und an weiteren Orten des Hofs versteckte Dinge werden entweder von sowjetischen Soldaten oder spätestens von den neuen polnischen Eigentü- mern aufgespürt und übernommen. Hierbei kommt der Elfjäh- rigen nach ihrem Empfinden eine besondere Verantwortung zu. „Mein Vater hatte speziell mir, da ich die Älteste war, alle diese Verstecke gezeigt für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte. Ein noch verbliebenes Versteck befand sich auf dem Heuboden. Da ereignete sich folgendes: Ein Pole nahm mich ganz allein mit auf den Heuboden, auf den vom Hof aus eine eigene Treppe führte. Er wollte von mir das Versteck im Heu herausbekommen, was mein Vater mir im Vertrauen gezeigt hatte. Der Pole versuchte es mit allen Mitteln, mir das Geheimnis zu entlocken. Auf der Treppe zum Heuboden küsste er mich und versuchte es mit süßen Tönen, mich zum Verrat zu verfüh- ren. Als er damit nichts erreichte, drohte er mir und versuchte, mir Angst einzujagen. Durch seine Küsse war ich so angewidert, dass jegliche Angst von mir wich und ich fest entschlossen war, meinen Vater nicht zu verraten und sein in mich gesetztes Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich weiß noch ganz genau meine damalige Empfindung und den festen Entschluss und war dabei ganz sicher und furchtlos, als ich dachte: Und wenn du mich umbringst, ich verrate Dir das Versteck nicht, weil ich meinen Vater nicht verraten werde. Dieser feste Entschluss gab mir elfjährigem Kind eine vorher nie gekannte Kraft und Furchtlosigkeit. Als der Pole nichts erreichte, gab er es auf.“ Trotz aller Enteignungen kann sich Elisabeth Schütte aber nicht daran erinnern, dass man in den Monaten unter polnischer Verwaltung gehungert habe. „Das kam erst später im Lager.“ Als besonders schlimm erlebt sie aber einen der zugezogenen Polen mit Namen Marian, der mit Gewehr und Ochsenziemer ausgestattet durch die Dorfstraßen gezogen sei und von dem Schlaginstrument willkürlich Gebrauch gemacht habe. „Der haute dann drauf auf die Leute. Der war sehr gefürchtet, dieser Mann.“ Insgesamt, so das Resümee zu dieser Zeit, sei das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen in Steinsdorf „merkwürdig ge- spalten“ gewesen. „Es durfte kein Deutsch mehr gesprochen werden, weder in der Kirche noch in der Schule oder sonst wo. Es war nur noch Polnisch erlaubt.“ Jeder deutsche Schriftzug sei übermalt, wegradiert oder abgemeißelt worden, erinnert sich Elisabeth Schütte. „Selbst die deutschen Grabsteine wur- den alle umgeschmissen. Der ganze Friedhof war verwüstet. Die Gräber unserer Großeltern waren weg. Das haben sie alles weg gemacht, weil da die deutsche Schrift drauf war.“ die wir voller Angst und Todesfurcht verbrachten, kamen die Russen aus dem Haus und hielten meiner Mutter ein Kästchen mit verschiedenen Orden unter die Nase, die zum größten Teil noch von meinem Großvater waren, der in der Feuerwehr, im Kirchenchor und in anderen Vereinen geehrt worden war. Damit zogen sie ab und ließen uns am Leben, nicht sicher wissend, ob sie noch einmal zurückkehren würden.“ „Die hatten alles zu sagen, und wir hatten nichts mehr zu sagen.“ – Unter polnischer Verwaltung
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