Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

„Es war so ein Ahnen, dass die Polen etwas im Schilde führen“, umschreibt Elisabeth Schütte die Stimmung in Steinsdorf zum Jahresbeginn 1946. Verstärkt wird diese unheilvolle Ahnung durch ein unerklärliches Naturphänomen. „Als wir Anfang Ja- nuar 1946 an einem Morgen aus der Kirche kamen und von der Höhe auf das Dorf blickten, sahen wir, wie die feuerrote Morgensonne sich plötzlich eine Zeitlang ganz schnell im Kreise drehte. Das sahen alle, die dort waren. Nach einiger Zeit stand die Sonne wieder still. Die Leute sagten: ‚Was mag das zu be- deuten haben?‘ Einige Tage später wussten wir es.“ Am Nachmittag des 15. Januar 1946 ist es soweit: Auf dem Hof der Müllers erscheinen zwei polnische Polizisten: „In zehn Minuten müssen Sie das Haus verlassen!“ Die folgenden Er- eignisse fasst Elisabeth Schütte später so zusammen: „Wir konnten uns nur schnell anziehen und das Nötigste zusam- menpacken. In meine Seele hat sich eingeprägt, dass ich in unserer Haustür stehend laut geschrien und Gott um Hilfe an- gefleht habe. Schlagartig waren Existenz, Sicherheit, Gebor- genheit, Heimat, alles Vertraute weg. Wir waren ins Ungewisse, Bodenlose, ins Nichts geworfen. Der Boden unter unseren Fü- ßen war uns buchstäblich entzogen. Es gab nichts Schützendes mehr. Ein Trost nur war uns verblieben. Wir waren noch beiei- nander, Eltern und Kinder. Doch die Zukunft war dunkel und ungewiss. Keiner wusste, ob es ein Zurück gab. Doch alle glaub- ten daran, weil niemand den Gedanken ertrug, für immer der seit Jahrhunderten angestammten Heimat beraubt zu werden, vertrieben von Haus und Hof.“ Zum Zeitpunkt der Vertreibung vom Hof ist es bitterkalt, so dass in den verbleibenden zehn Minuten versucht wird, so viel Kleidung übereinander anzuziehen, wie es eben möglich ist: „mehrere Teile Unterwäsche, Sommersachen, Wintersachen“. Anderes, was man zuvor sorgsam zusammengestellt hat, muss dagegen zurückbleiben. So trauert Elisabeth Schütte noch heute jener Tasche nach, die sie mit für sie besonders wichtigen Dingen - etwa Fotografien - bestückt und im Keller versteckt hat. Sie findet einfach nicht mehr die Zeit, diese ihr so wichtigen Dinge zu holen – der Grund, weshalb diese Lebensgeschichte praktisch unbebildert bleiben muss. Denn nach den angekün- digten zehn Minuten – das berichtet Alfred Müller - erscheinen die Polizisten erneut „und prügelten auf uns ein, weil es ihnen nicht schnell genug ging“. Der Weg führt zunächst in eine ört- liche Gastwirtschaft, wo sich nahezu alle Steinsberger deut- scher Nationalität eingefunden haben. Die einzige Ausnahme ist eine fünfköpfige Familie, deren Elternteile perfekt Polnisch sprechen und daher entschieden haben, die polnische Staats- angehörigkeit anzunehmen. Elisabeth Schütte berichtet weiter: „Das wenige Gepäck trugen wir in der Hand - kein Bettzeug, keine Utensilien zur Körperpflege. Nachdem alle Dorfbewohner eine Nacht im Saal des Gasthofes Krause auf der Erde liegend verbracht hatten, wurden wir auf Pferdewagen verladen und in die Kreisstadt Neiße transportiert. Dort wurden wir in den ehemaligen Solda- tenunterkünften in den Kasematten untergebracht. In diesen Festungsgemäuern kamen wir zum ersten Mal mit Wanzen und Läusen in Berührung. Mehrere Tage blieben wir dort, bis die Bewohner von acht Dörfern aus dem Kreis Neiße zusam- mengepfercht waren. Es gab kein Essen. Wir lebten von den wenigen Vorräten, die wir mitgebracht hatten.“ Immerhin gelingt es mit Hilfe von in Neiße untergebrachten Verwandten eher zufällig, zumindest eine Milchkanne warmer Suppe für alle zu organisieren. „Das waren wir, Tante Martha mit den Kindern und Wuttkes. Das war wichtig für unser Überleben.“ Am 18. Januar 1946 geht es weiter. Die in den Kasematten internierten Deutschen werden in Viehwaggons verladen. „Auf dem Boden lag noch der Mist von den Tieren, die vorher darin transportiert worden waren. Wir hatten Glück, dass es Pferde waren und keine Schweine, deren Gestank uns noch übler zu- gesetzt hätte. Die einzelnen Waggons wurden so vollgestopft mit Menschen, dass nur wenige einen Platz zum Sitzen auf dem Boden fanden. Ungefähr eine Woche lang wurden wir von Neiße bis nach Forst an der Görlitzer Neiße - normalerweise eine Fahrt von wenigen Stunden - durch die Gegend geruckelt. Nachts fuhr der Zug, am Tag stand er meistens. Dann machten die Vertriebenen mit Papier ein Feuer und schmolzen in einem Topf etwas Schnee, um Wasser zum Trinken zu haben. Die Schikanen waren zahlreich: Ruckartiges Fahren, stundenlanges Stehenbleiben des Zuges in der tief verschneiten Landschaft, streng bewacht, kaum zu essen, hin und wieder bekam jeder 126 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE Es wird bald klar, dass ein Verbleib im Heimatort immer un- wahrscheinlicher wird: „Wenn wir nur Deutsch sprachen, muss- ten wir raus, ob wir wollten oder nicht.“ Andererseits hätten die Steinsdorfer das nicht fassen und akzeptieren können. Eli- sabeth Schütte kann sich noch gut an den Standpunkt der meisten Dorfbewohner erinnern: „Das kann nicht wahr sein, dass wir aus unserem Haus vertrieben werden – für immer! Das sind vier Wochen, aber dann kommen wir wieder.“ Das sei „ganz stark“ das Gefühl der Alteingesessenen gewesen. Man habe damals in der Hoffnung gelebt, die alten Besitzverhält- nisse wieder herstellen zu können. Diese Haltung der Erwach- senen habe sich auch auf die Kinder übertragen, die eigentliche Vertreibung überdauert und lange angehalten. „In zehn Minuten müssen Sie das Haus verlassen!“ – Vertreibung

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