Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
127 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE Waggon ein Brot zugeteilt. Das Wachpersonal durchsuchte das wenige Gepäck der Menschen und stahl, was ihm gefiel. Keine Möglichkeit zu schlafen, kein wärmendes Bettzeug.“ In Görlitz endet die Fahrt zunächst auf polnischer Seite, weil die Brücke über die Neiße gesprengt ist und nur eine Be- helfsbücke für Fußgänger existiert. Die Bilder sind grauenhaft und prägen sich Elisabeth dauerhaft ein: „Als alle aus den Wag- gons stiegen, lud man auch die Toten des Transports aus. Es waren in erster Linie alte Menschen, Säuglinge und Kleinkinder, die diese Todesfahrt nicht überlebt hatten. Den Säuglingen waren die Windeln am Po festgefroren. Die Männer des Trans- ports mussten in Bombentrichtern die Toten verscharren. Eine alte Frau, die Großmutter einer Familie mit drei kleinen Kindern aus unserem Dorf, konnte nicht mehr allein gehen und lag im Sterben. Sie wurde von den Polen kurzerhand noch lebend mit in das Massengrab geworfen.“ Elisabeth leidet aus ihrer kindlichen Perspektive heraus an dem die Vertreibung begleitenden völligen Verlust an Selbst- bestimmung und dem damit verbundenen Ausgeliefertsein: „Diese Willkür, mit den Menschen machen zu können, was man will. Die haben überhaupt keine Rechte mehr, und die Freiheit spielt keine Rolle. Wir hatten keinerlei Freiheit, irgendetwas zu sagen, zu tun oder etwas abzulehnen.“ Daher sei „der Gedanke der Freiheit“ damals für sie zu etwas geworden, was sie als „Wichtigstes auf der Welt“ empfunden habe. „Das der Mensch die Freiheit hat!“ „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“ – In der SBZ In Görlitz entwickelt sich eine eigentümliche Lage: Die sowjeti- schen Truppen wollen die aus den neu-polnischen Gebieten Vertriebenen nicht in das Gebiet ihrer Besatzungszone ein- wandern lassen. „Als die vielen Menschen über die Neißebrücke kamen, schrien die Russen auf der anderen Seite: ‚Zurück, zu- rück!‘ Sie wollten uns nicht aufnehmen. Die Polen hatten uns ausgewiesen, und die Russen wiesen uns ab.“ Nach „langem hin und her“, während dem die Vertriebenen bei fast minus 20 Grad in der Kälte ausharren müssen, wird schließlich eine Lö- sung gefunden: „Vorübergehend wurden wir in Forst in dem Saal des Hotels Kaiserhof untergebracht bis entschieden war, was mit uns geschehen sollte.“ Hier wird die große Gruppe aufgeteilt und zunächst in ver- schiedenen Auffanglagern untergebracht. Familie Müller ver- schlägt es gemeinsam mit der verwandten Familie Wuttke in ein Lager nach Finsterwalde, während Tante Martha mit ihren fünf Kindern, die bislang alle Geschicke mit den Müllers geteilt haben, in ein anderes Lager eingewiesen werden. Mit Finsterwalde verknüpft Elisabeth Schütte ausgespro- chen schlechte Erfahrungen. „Dort blieben wir insgesamt neun Wochen. Es war ein Lager mit großen Räumen und vielen Stock- betten übereinander. Jede Nacht, wenn das Licht gelöscht wurde, kamen die Wanzen und Flöhe als ständige Bewohner aus den Bettritzen gekrochen und quälten die Menschen mit ihren Bissen. Durch die reichliche Ernährung mit Menschenblut vermehrten sich die Wanzen prächtig und blieben ständig un- sere Quälgeister in der Nacht. Am Tage aber machten sich die Mangelernährung und damit der Hunger bemerkbar. Es gab für jeden täglich eine Tasse wässriger Suppe und eine Scheibe Brot. Das war alles. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Wir hatten Hunger. Die Folge davon war, dass die Menschen Löcher in den Lagerzaun schnitten und in die umliegenden Dörfer zu den Bauern betteln gingen. Es waren zu viele hungrige Menschen im Lager. Das Betteln nahm deshalb überhand, so dass die Bauern die Hunde auf die Menschen hetzten und nichts mehr gaben. Der Radius um das Lager wurde deshalb immer weiter gezogen. Einmal bin ich mit Maria Wuttke in ein etwa 5 bis 8 km entferntes Dorf zum Betteln gegangen. Wir klopften an einem Haus an, an dem ein Türschild besagte, dass dort ein Töpfer wohnte. Die Leute waren freundlich zu uns und sagten: ‚Wir können Ihnen nichts mitgeben, aber Sie können sich hier am Tisch bei uns sattessen.‘ Das werde ich nie ver- gessen, weil ich damals dachte und empfand: Jetzt ist der Him- mel auf die Erde gekommen. Diesen Leuten werde ich mein Leben lang dankbar sein.“ Die Folgen des neun Wochen währenden Hungerns machen sich besonders bei den im Lager untergebrachten Kindern und Heranwachsenden bemerkbar. Alfred Müller etwa bricht nach vier Wochen Lageraufenthalt zusammen und muss ins Kran- kenhaus eingeliefert werden, wo man ihn nur mit Mühe am Le- ben erhält. Elisabeth Schütte vermutet, dass hier der Grund für den vergleichsweise frühen Tod ihres Bruders zu suchen ist. Ihre Tante Bertha Wuttke, die Mutter von Rudi, Maria und Lena, stirbt im Lager. Als die Leiden in Finsterwalde endlich ihr Ende finden, wer- den sämtliche Lagerinsassen in der Umgebung aufgeteilt. Fa- milie Müller kommt bei einem Bauern in Schönborn unter. Die Bedingungen dort erinnert Elisabeth Schütte als schlecht: „Wir wurden dort in einem niedrigen Gewölbekeller untergebracht, in dem man nicht aufrecht stehen konnte. Der Bauer gab mei- nen Eltern weder Arbeit noch Brot. Mein Vater ging am Tage in die umliegenden Wälder, um nach etwas Essbarem für uns zu suchen. Eines Tages kam er mit einem Reh nach Hause, das sich in der Falle eines Wilderers verfangen hatte. Das teilten wir mit dem Bauern, bei dem wir wohnten. Wir hatten keine Gefriermöglichkeit.“ Daran, wie die Versorgung in dieser Zeit
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=