Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
dankbar empfand, dass wir alle vier noch lebten und beisammen waren und dass wir in Freiheit waren.“ „Freiheit“ ist nun auch im Westen der Begriff, um den sich für sie alles dreht. Sie habe diese Freiheit als gerade erst 12-Jährige überaus stark emp- funden. „Sie war für mich das wichtigste Gut.“ Dabei meine sie, wie sie ausdrücklich betont, „nicht die Freiheit, wie man sie heute versteht, frei von Vorschriften und Bevormundung Er- wachsener zu sein und tun zu können, was einem passt, selbst wenn es dem anderen wehtut oder die Freiheit des anderen einschränkt“. Nein, sie „meine und schätze die Freiheit über al- les, nicht mehr der Willkür von Menschen ausgesetzt zu sein, die den anderen missachten, ihn bösartig quälen und ängstigen, ja nach Belieben töten können. Ich meine die Freiheit, nachts schlafen zu können, ohne auf der Lauer zu liegen, dass Fremde 128 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE genau funktionierte, kann sich Elisabeth Schütte nicht mehr erinnern. „Vielleicht waren wir das Hungern schon so gewohnt, dass wir es gar nicht mehr bemerkt haben“, blickt sich mit einer Portion Galgenhumor zurück. Immerhin stellen die neuen Lebensbedingungen verglichen mit Finsterwalde einen erheb- lichen Fortschritt dar. Neben der Ernährung gibt es weitere Probleme, die gelöst werden müssen: „Es stellte sich in den zwei Monaten, die wir in Schönborn verbrachten, heraus, dass ich so stark gewach- sen war, dass mir das einzige Sommerkleid, das ich besaß, nicht mehr passte. Es war viel zu kurz. Meine Mutter ging mit dem Kleid von Haus zu Haus und fragte die Leute, ob sie viel- leicht ein passendes Stück Stoff hätten, womit man das Kleid verlängern könnte. Tatsächlich bekam sie einen grünen Stoff- streifen geschenkt, der es ermöglichte, dass ich das Kleid noch einen Sommer lang tragen konnte.“ So ausgestattet kann sich Elisabeth auch in die Schönbor- ner Volksschule trauen, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder im Frühjahr 1946 für einige Wochen besucht. Sie habe dort sogar einige Worte Russisch gelernt, entsinnt sie sich, und sei für ihre schnelle Auffassungsgabe gelobt worden. Die Zeichen deuten aber längst in andere Richtung, denn auf Dauer, das steht für Paul und Maria Müller fest, ist die sowjetische Besat- zungszone nicht der Ort, an dem sie bleiben wollen. „Da wir alle so viel gelitten hatten unter den Russen, war es das einzige Bestreben meines Vaters, aus ihrem Bereich wegzukommen“, umschreibt Elisabeth Schütte die Haltung ihres Vaters. Ein glücklicher Zufall eröffnet tatsächlich bald den Weg nach Wes- ten: Weil Cousin Rudi Wuttke während seiner Zeit bei der Wehr- macht zeitweise auf dem Hof von Toni Rosen in Garzweiler einquartiert gewesen ist und während dieser Zeit im Ort einige Freundschaften geschlossen hat, entsinnt er sich des Kontakts und erhält für seine Familie tatsächlich eine Zuzugsgenehmi- gung. Am Niederrhein seien in der Landwirtschaft dringend Arbeitskräfte benötigt worden, entsinnt sich Elisabeth Schütte und erzählt, dass anschließend auch ihre Eltern die Chance ergriffen hätten. „Wuttkes besorgten uns eine Unterkunft in Garzweiler und schickten uns eine Einreisegenehmigung“, mit der man damals die SBZ noch völlig legal an bestimmten Grenzstellen verlassen darf. „Wir machten uns also im Juni 1946 auf den Weg nach Wes- ten.“ Aber auch dieser Weg verläuft alles andere als geradlinig: „Als wir die Grenzstelle bei Friedland passieren wollten, gab es dort riesige Warteschlangen von Menschen. Als wir am spä- ten Nachmittag an den Grenzpunkt gelangten, wurden mein Vater und wir Kinder noch hindurchgelassen, vor unserer Mut- ter jedoch wurde der Schlagbaum heruntergelassen, und sie blieb auf der anderen Seite zurück. Wir Kinder haben damals laut geschrien: ‚Unsere Mutter, unsere Mutter muss noch mit‘, dass die Grenzsoldaten Erbarmen hatten und die Mutter noch durchließen.“ Es folgt das damals übliche Procedere: „Wir marschierten auf das Lager Friedland zu. Als wir um die Ecke eines Lager- gebäudes bogen, wurde über uns eine Wolke weißen Pulvers gesprüht, dass wir erschraken. Dies war eine Maßnahme gegen Läuse, wie sich herausstellte. Aber die eigentliche Entlausung sollte noch kommen. Wir mussten alle Kleider, unsere ganze Habe abgeben, damit sie in einem heißen Ofen entlaust werden konnten. Wir selbst gingen nackt in eine Dusche, um den Läu- sen zu Leibe zu rücken. Das geschah mit allen, ob sie verlaust waren oder nicht.“ Damit ist dann aber das Schlimmste überstanden und der Weg ins Rheinland steht offen. „Wir kamen am Dienstag, den 4. Juni 1946 in Jüchen am Bahn- hof an und wurden von Rudi Wuttke mit Pferd und Wagen ab- geholt“, konnte sich Alfred Müller zeitlebens gut erinnern. Vom Bahnhof aus geht es nach Garzweiler, wo die Müllers in der Mausgasse in einen kleinen ehemaligen Stall einziehen. Elisa- beth Schütte kann sich noch gut an die Unterbringung erinnern. „Dort hatte man für die Fremdlinge nur einen Stall als Unterkunft zur Verfügung. In der Mitte war ein Gang, rechts und links zwei Boxen für die Tiere und dazwischen die Ablaufrinnen für den Urin der Tiere.“ Toilette oder zumindest einen Wasseranschluss sucht man vergebens. Angesichts solcher Zustände ist die Enttäuschung zunächst groß, wird aber bald von anderen Gefühlen in den Hintergrund gedrängt. Elisabeth Schütte berichtet: „Ich weiß noch, dass ich „Wir hatten nichts, keinen Teller, keine Tasse, kein Garnichts.“ – In Garzweiler
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