Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
129 AUS DEM LEBEN VON ELISABETH SCHÜTTE an die Tür pochen und mein Leben bedrohen. Ich meine die Freiheit, denken und sagen zu können, was ich denke, ohne in ständiger Angst zu leben vor Diktatoren und Despoten. Diese Freiheit ist mir mehr wert als alles Hab und Gut, das, wie ich ja erfahren hatte, einem restlos genommen werden konnte“. Insofern nehmen die Müllers auch die überaus bescheidene Wohnsituation klaglos hin, zumal sie nach einigen Monaten den Stall gegen zwei kleine niedrige Dachgeschosszimmer tauschen können, in denen die vierköpfige Familie dann zehn Jahre lebt. - „Nachmieter“ der Stallräume in der Mausgasse wird im Übrigen bald danach Familie Bandemer und schließlich Familie Kusch, deren jeweiliges Schicksal hier ebenfalls nachzulesen ist. Eine Beschäftigung finden Paul und Maria Müller durch Ver- mittlung von Rudi Wuttke auf dem Hof Welter in Garzweiler. Die Entlohnung ist allerdings mehr als mäßig und besteht vor- wiegend aus Naturalien. „Beide Eltern haben gearbeitet und geschuftet, als wenn es ihr Eigenes wäre, im Haus und Garten und überall für das Essen für sich und ihre beiden Kinder.“ Die Familie verfügt zudem über keinerlei Eigentum. „Wir hatten ja nichts, keinen Teller, keine Tasse, kein Garnichts“, umreißt Eli- sabeth Schütte die schwierige Ausgangslage. Auch Bettzeug, Decken und andere Güter des täglichen Gebrauchs fehlen völ- lig. Dabei sind die Müllers gänzlich auf private Unterstützung angewiesen. „Da ist uns von der Gemeinde garnichts gegeben worden. Das mussten wir im Laufe der Zeit alles beschaffen.“ Als Glücksfall erweist sich hierbei das kinderlose Ehepaar Bischof. Es nimmt die Müllers kostenlos im ungenutzten Dach- geschoss ihres kleinen Häuschens in der Vikariestraße 123 auf und unterstützt sie, so gut eben möglich. Vor allem aber pflegen die beiden älteren Garzweiler einen freundlichen Umgang mit den Neuankömmlingen. Die Inhaber des Hofes, auf denen das Ehepaar Müller Arbeit gefunden hat, verhalten sich leider nicht ganz so nett. Obwohl beide ganztags mit voller Kraft arbeiten, bleibt es zwei Jahre lang bei einer kargen Entlohnung mit Nahrungsmitteln. Weil Geld bis zur Währungsreform im Juni 1948 einen eher geringen Stellen- wert hat, fällt diese Form der Ausbeutung zunächst nicht zu sehr ins Gewicht. Aber auch nach demWährungsschnitt zahlt der Ar- beitsgeber weiterhin keinen Lohn. Weil es Paul Müller offenbar zu peinlich ist, wegen einer Bezahlung nachzufragen, dauert es bis Ende 1948, ehe eine seiner Schwestern – „Tante Maria“ - aus Hamburg anreist und angesichts der unhaltbaren Zustände das Gespräch mit dem Bauern sucht. Von diesem Zeitpunkt an erhält das Ehepaar Müller für die harte Arbeit von zwei Personen den äußerst geringen Lohn von 60 RM pro Monat. Die beiden zehn bis zwölf Quadratmeter kleinen Zimmerchen unter dem Dach, in denen die Müllers die nächsten zehn Jahre im Haus von Familie Bischof verbringen, lassen kaum Raum zur Entfaltung und bieten zudem keinerlei Privatsphäre. Eines der Zimmer wird zum Kochen, Essen und Wohnen genutzt, das andere als Elternschlafzimmer. „Wir haben auf dem Flur ge- schlafen“, erzählt Elisabeth Schütte. „Mein Bruder und ich stie- ßen, als wir größer wurden, an die niedrige Balkendecke mit den Köpfen an, wenn wir nicht aufpassten.“ Die Toilette befindet sich unten auf dem Hof, ein Bad gibt es nicht. Die einzige Waschgelegenheit befindet sich in der Küche. Elisabeth Schütte erinnert sich allerdings nur vage und räumt ein, dass sie Ein- zelheiten an die Unterkunft trotz zehnjährigen Aufenthalts wohl weitgehend verdrängt habe. Die Unterbringung empfinden die Müllers aber insbesondere deshalb als nicht so schlimm, weil „die Hauseigentümer sehr liebe Menschen waren“. Ohnehin sind alle Blicke mehr und mehr auf die Zukunft gerichtet: „Es war eine sehr armselige Zeit, die nun folgte, aber langsam und allmählich ging es aufwärts.“ Eine größere Wohnung habe man sich aber weiterhin selbst dann nicht leisten können, wenn eine solche auf dem Woh- nungsmarkt verfügbar gewesen wäre. „Die hätte mein Vater gar nicht bezahlen können“, ist sich Elisabeth Schütte sicher. Der komplette Besitz ist mit dem Hof in Steinsdorf und seinen Feldern und Tieren unwiederbringlich verloren gegangen. Erst „sehr, sehr viel später“ habe ihr Vater im Rahmen des Lasten- ausgleichs eine recht geringe Zahlung erhalten. Seit dem 13. Juni 1946 besuchen Elisabeth und ihr Bruder Alfred nach mehr als anderthalbjähriger Unterbrechung endlich wieder die Schule. In der Garzweiler Volksschule, so erinnert sie sich, sei sie „gut“ aufgenommen worden. Mit den Mitschülern und Mitschülerinnen habe es kaum Konflikte gegeben. Das Problem sei eher der – bereits erwähnte – Lehrer gewesen, der aufgrund seiner unmittelbar bevorstehenden Pensionierung offensichtlich keine Lust mehr gehabt habe, den Kindern etwas beizubringen. Elisabeth und Alfred finden jedenfalls schnell An- schluss und schließen Freundschaften. Angesichts der zwischen 1944 und 1946 verlorenen Schul- jahre, den wirtschaftlichen Engpässen im Elternhaus und mit Blick auf den Status als „Flüchtling“ sind die Perspektiven für die Müller-Kinder nicht eben günstig. Sie und ihr Bruder, so er- zählt Elisabeth Schütte, seien „Kinder armer Eltern“ gewesen, die aufgrund der Vertreibung „nichts mehr hatten“. Diese soziale Benachteiligung droht trotz allen Bildungshungers ihr ganzes weiteres Leben zu bestimmen, denn in Garzweiler geht man offenbar davon aus, dass sie nach Abschluss der Volksschule für den lokalen Arbeitsmarkt verfügbar ist. Sehr bald hätten „Ich habe bis in die Nacht hinein gelernt.“ – Bildungsdrang und Beruf
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