Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

133 A uch imWesten Deutschlands rückte der Krieg seit der In- vasion alliierter Truppen in der Normandie im Juni 1944 immer näher an die Reichsgrenze heran und beunruhigte insbesondere die im Linksrheinischen lebende Bevölkerung. 89 Die allgegenwärtigen Ängste steigerten sich in eine neue Dimension, als sich die alliierten Truppen der deutschenWestgrenze näherten. „Große Aufregung herrscht im Volke. Truppen kehren mit ihren Fahrzeugen aus dem Westen zurück. Man hört den Donner der Kanonen. ‚Müssen wir räumen?! Haus und Hof verlassen? Was mag es geben?’“, fragte beispielsweise der Glehner Pfarrchronist bereits am 10. September 1944. MENSCHEN IN BEWEGUNG Am 11. September ordnete NSDAP-Gauleiter Grohé die Zwangs- evakuierung von Aachen und Teilen der KreiseMonschau und Gei- lenkirchen an - eine Maßnahme, von der rund 300.000 Menschen betroffen waren. All das verstärkte nicht nur die Befürchtungen in der Bevölkerung, sondern löste auch im Westen eine erste große Welle von Evakuierten und Flüchtlingen aus, die dem Rhein zu- strebten und dabei auch Zuflucht in den Dörfern amNiederrhein suchten. Hier hatten sich seit der Eskalation des Bombenkrieges seit Mitte 1943 ohnehin schon zahlreiche Bewohner der zahlrei- chen bombengeschädigten rheinischen Großstädte eingefunden, die in immer neuen Schüben in die Dörfer des Niederrheins ge- schwemmt wurden. Die Stadt kam sozusagen aufs Land, und es galt die Betroffenen hier unterzubringen und zu versorgen. Insgesamt wurde das Leben in den Dörfern mit nahendem Kriegsende immer stärker von einem permanenten „Kommen und Gehen“ geprägt, von dem sich schließlich auch Teile der Landbe- völkerung anstecken ließen. Es kamen immer mehr Trecks hinzu, die von Westen her den Rhein erreichen wollten. „Durch die Ge- meinde sieht man viele Flüchtlinge aus den Grenzdörfern ziehen, um sich über den Rhein in Sicherheit zu bringen. Auch versprengte Soldaten kamen vorbei“, heißt es über dieses Phänomen etwa in der Pfarrchronik des kleinen Weilers Herrenshoff. Die sich nicht zuletzt auch durch Luftangriffe permanent zuspitzende Lage wurde beispielhaft in der Kleinenbroicher Schulchronik zusammengefasst: „Seit September 1944 wurde die Heimat zunehmend Kriegsgebiet. Jetzt gab es Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Wenn das Wetter ei- nigermaßen klar war, kreisten die Jagdbomber über uns, die es vor allem auf den Eisenbahnverkehr abgesehen hatten, vor deren Ma- schinengewehrsalven aber auch der Bauer auf dem Felde nicht si- cher war.“ Die nähere Zukunft versprach nichts Gutes, worüber selbst die NS-Presse nunmehr keinerlei Illusionen mehr aufkommen ließ: „Das linksrheinische Gebiet unseres Gaues gehört als Kampfraum, als Gebiet rückwärtiger Stellungen oder Etappe demKriege!“, ver- lautbarte der „Westdeutsche Beobachter“ am 12. September 1944, um dann angesichts der sich zuspitzenden Lage vier Tage später von jedem Bewohner der Region eine „soldatische Haltung“ ein- zufordern und zugleich ein sich an der Sichtweise Adolf Hitlers orientierendes düsteres Untergangsszenario zu skizzieren: „Die Not der Zeit zwingt uns alle zusammen. Der in voller Fahrt be- findliche Zug des Krieges gestattet niemand mehr, auszusteigen, wann es ihm beliebt. Wir werden gemeinsam das Ziel der Kriegs- reise erreichen oder wir werden einzeln untergehen und als Volk und Nation aus dem Buch des Lebens gestrichen werden.“ Das sahen die weitaus meisten der im linksrheinischen Grenz- gebiet wohnendenMenschen jedoch völlig anders und versuchten, sich auf die bedrohliche Situation einzustellen. Vor den Schaltern der Kreissparkasse im Städtchen Frechen etwa bildeten sich Mitte September lange, bis auf die Straße reichende Schlangen. Das könne man, so schrieb eine Angestellte der Sparkasse, den Kunden nicht verdenken. „Schließlich will jeder etwas Geld haben, wenn wir räumen müssen, und das wird wohl nicht mehr allzu lange dauern.“ Immer mehr Menschen machten sich nun auch imWesten mit ungewissem Schicksal auf denWeg in ihnen unbekannte Gegenden jenseits des Rheins. „Das Elend nähert sich“, notierte eine Kölnerin am 18. September mit Blick auf die Straßen der Stadt. „Schon wird ja bei Stolberg gekämpft. Man weiß nicht, was der nächste Tag bringt. Wir hören jetzt die Geschütze der Front.“ DieMenschen seien „voll banger Fragen an das Schicksal, und wo nur zwei Men- schen zusammentreffen, ist von nichts anderem die Rede als: müs- sen wir fort oder dürfen wir bleiben, sollen wir fort – kann man bleiben?“ Wie abschreckend der Gedanke an eine Flucht empfun- den wurde, zeigt die Beschreibung des „Elendszugs der Aachener und der Grenzdörfler“: „Auf meinemWeg zumBüro bin ich daran vorüber gefahren, wie sie auf Lastwagen, Autos, Wagen und Karren und Fahrrädern, hoch bepackt, übermüdet und verdreckt daher- kamen. Mir kommen jetzt beim Erinnern wieder die Tränen – es war ein herzerschütternder Anblick. Alles sah mit bleichen Ge- sichtern auf diese Armen und ihr bisschen mitgeschleppter Habe und alles sah auch in heimlicher Angst das gleiche Los auf sich sel- ber zukommen.“ Immer mehr Menschen gingen in dieser Zeit auch im Westen dazu über, in ihren Wohnungen und Häusern kleine Räume oder Ecken mit Mauerwerk zu verschließen, nachdem sie zuvor wertvolle Dinge darin versteckt hatten. „Andere wieder ver- graben ihren Besitz, ja sogar ganze Zimmereinrichtungen, tief in die Erde ihrer Gärten.“ Man harre, so hieß es abschließend, der kommenden Dinge in einem „leeren Zustand des Wartens“. Der Schweizer Generalkonsul von Weiss machte Mitte Oktober 1945 in der Bevölkerung zunehmende Resignation aus. „Das Volk ist Die Lage im Westen

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