Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
135 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM WESTEN Verantwortung der Parteidienststellen liege. Das sorgte für erheb- liche Spannung und erhöhte die Nervosität in der Bevölkerung, die keineswegs gewillt war, Häuser und Höfe zu verlassen, um in der Fremde einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen. Anderer- seits litten dieMenschen aber auch stark unter den kriegsbedingten Belastungen der jüngsten Vergangenheit. „Seit Monaten hört man die Kanonen immer näher; dabei bei Tag und Nacht Bomber in der Luft, Furcht vor der Evakuierung“, umriss etwa der Glehner Pfarrer Wiesebrock die psychische Verfassung der niederrheini- schen Bevölkerung. Als weiteres beunruhigendes Element trat seit Herbst 1944 der „Volkssturm“ hinzu, zu dem nun auch am Niederrhein viele jener alten Männer und minderjährigen männlichen Jugendlichen ein- berufen wurden, die bis dahin aufgrund ihres Alters von Kriegs- diensten befreit gewesen waren. Nun sollten sie ohne militärische Ausbildung und mit alten oder gar defektenWaffen einen ohnehin übermächtigen Gegner aufhalten. ARDENNENOFFENSIVE Im Herbst und im beginnenden Winter des Jahres 1944 deutete zunächst viel auf ein schnelles Kriegsende hin, zumal am 21. Ok- tober nach erbitterten Kämpfen mit Aachen die erste deutsche Großstadt von US-amerikanischen Panzerverbänden erobert wor- den war. Neben strategischen Vorteilen war dem ein hoher symbo- lischer Wert beizumessen, denn nun war eine erste große Bresche in den angeblich so unüberwindlichen „Westwall“ und damit in die gesamte Reichsverteidigung geschlagen worden. Außerdem be- gannen die alliierten Luftstreitkräfte Anfang Oktober mit der neu- erlichen systematischen Bombardierung des Rhein- und Ruhrgebiets. Zur Unterstützung des Vormarschs ihrer Bodentrup- pen griffen sie zugleich aber zunehmend auch kleinere Städte und Gemeinden an. Am 16. November 1944 traf es Düren und Jülich ganz besonders hart. Bei diesem vielleicht schwersten taktischen Luftangriff des gesamten Krieges wurde an einem einzigen Tag mit insgesamt 9.300 Tonnen eine unvorstellbare Menge an Bomben auf ein Gebiet - nämlich das von Düren, Jülich, Eschweiler und Heinsberg - abgeworfen. Düren und Jülich waren anschließend je- weils zu nahezu 100% zerstört und damit praktisch von der Land- karte verschwunden, rund 4.000Menschen ums Leben gekommen. - Angesichts solcher direkt erlebter Zerstörungsgewalt dürften sich am Niederrhein auch die Hoffnungen auf die Wirkung der lang angekündigten „Wunderwaffe“ „V 2“ in Grenzen gehalten haben, über deren Einsatz Propagandaminister Goebbels am 8. November erstmals offiziell berichtet hatte. Das Ende des Krieges imWesten nahm Konturen an. Umso überraschter waren Amerikaner und Briten, aber wohl auch viele Bewohner der Eifel und des Niederrheins, als am 16. Dezember 1944 mit der Ardennenoffensive der letzte – und ver- gebliche – Versuch der Wehrmacht unternommen wurde, den al- liierten Ring imWesten doch noch einmal zu durchbrechen. Hitlers Plan sah vor, von den unwegsamen Ardennen aus über die Maas vorzustoßen und Brüssel einzunehmen, um anschließend Antwer- pen zurückzuerobern - ein Vorhaben das nach Anfangserfolgen schnell scheiterte. Nachdem die Wetterlage ab dem 23. Dezember wieder den Einsatz alliierter Luftstreitkräfte zuließ, erklärte Gene- ralfeldmarschall Gerd von Rundstedt die Offensive bereits am ers- ten Weihnachtstag für gescheitert. Hitler hingegen lehnte dessen Forderung auf eine Rücknahme der Wehrmachtsverbände auf die Linie des „Westwalls“ ab und forderte, das aussichtslose Unterneh- men fortzusetzen. Als sich am 16. Januar 1945 dann britische und US-amerikanische Truppen zur Gegenoffensive in Ostbelgien zu- sammenschlossen, „war der deutsche Traum von einem Sieg im Westen und einer generellen Kriegswende ausgeträumt“. 90 Die deutschen Truppen wurden bis zum Monatsende wieder auf ihre Ausgangsstellung vom Dezember 1944 zurückgedrängt. Mit dem Zusammenbruch der Ardennenoffensive waren auch die letzten Illusionen all jener endgültig verflogen, die zwar nicht mehr unbedingt an einen „Endsieg“ geglaubt, aber noch ein Kriegs- ende ohne Besetzung des Reiches erhofft hatten. Das „Kartenhaus Westfront“ kollabierte schnell, und General von Rundstedt brachte Lage und Stimmung deutlich auf den Punkt: Der „Soldat imWes- ten hat vomKrieg die Schnauze bis obenhin voll“, wobei man wohl ergänzen darf, dass das sicherlich auch auf die Zivilbevölkerung zutraf. Jedenfalls konnte nun jeder, der es sehen wollte, erkennen, dass es keinerlei begründete Hoffnung mehr auf einen glimpflichen Ausgang des Krieges gab. Die überlegenen Alliierten trieben die Reste des deutschen Westheeres fast nach Belieben vor sich her. Volkssturm Durch einen Erlass vom 25. September 1944 ordnete Hitler an, aus bis dahin nicht zu Kriegsdiensten eingezogenen Männern zwi- schen 16 und 60 Jahren umgehend eine Truppe aufzubauen, die den Namen „Volks- sturm“ führen sollte. Betroffen waren von dieser Zwangsmaßnahme immerhin rund sechs Millionen Männer und Jugendliche. Die Volkssturmeinheiten verfügten jedoch kaum über Material und Munition, so dass ihre Kampfkraft minimal blieb. Obwohl die bunt zusammengewürfelten, zumeist aus Kindern und Greisen bestehenden Ver- bände einen ärmlichen und bisweilen lächer- lichen Eindruck machten, verloren zahlrei- che Volkssturmmänner - insbesondere im Osten beim Kampf gegen die Rote Armee - ihr Leben. Nach Kriegsende galten 175.000 Volkssturm-Mitglieder als vermisst. ImWes- ten zeichnete sich der Volkssturm dagegen eher durch eine immens hohe Zahl von De- serteuren aus, die angesichts der nahenden alliierten Truppen zumeist ungeschoren un- tertauchen konnten.
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