Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

137 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM WESTEN Unversehrtheit, wie es das Kriegsglück eben wollte. Sah man in der einen Ortschaft, wie sich die Bewohner noch kaum ihrenWeg durch die Trümmer bahnen konnten, so konnte man nur wenige Kilometer weiter die Beobachtung machen, dass die Bauern in vie- len Ortschaften nach wie vor in den Feldern, Wiesen und Wein- bergen ihrer Arbeit nachgingen.“ 91 Insgesamt war aber zu beobachten, dass sich Bevölkerungsdichte und –zusammensetzung am Niederrhein im Laufe des Krieges er- heblich verändert hatten. In den linksrheinischen Provinzen, die Ende Februar und AnfangMärz 1945 an die Alliierten fielen, hatten 1937 auf etwa sechs Prozent der Fläche des Reichsgebietes rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung gelebt. Die einrückenden Truppen fanden dort aber nur noch ungefähr drei MillionenMen- schen vor. Dabei fielen die Einwohnerverluste durch Evakuierung oder Flucht amNiederrhein amhöchsten aus, weil hier die Kämpfe am längsten und heftigsten getobt hatten. Im Landkreis Kempen- Krefeld war die Bevölkerung bei Kriegsende verglichen mit 1939 um 29 Prozent, im Kreis Geldern um 35 Prozent und in Kleve sogar um63 Prozent zurückgegangen. Noch stärker betroffen waren die Landkreise Aachen, Düren und Erkelenz, die schon seit Herbst 1944 Kampfgebiet geworden waren. Von dort zogen vorübergehend bis zu 84 Prozent der Bewohner fort. Wie wenig aussagekräftig eine reine Betrachtung von Zahlen in diesem Zusammenhang sein kann, weil sie keinerlei Einblicke in die Zusammensetzung der Einwohnerschaft eröffnet, belegt das Beispiel Jüchen, das die amerikanischen Militärbeobachter einer näheren Betrachtung unterzogen. Die ergab, dass sich die nackte Zahl von etwa 3.000 Einwohnern durch die Kriegsereignisse kaum verändert hatte. Hinsichtlich der Bevölkerungsstruktur sah das hingegen völlig anders aus: 200 engagierte NSDAP-Mitglieder waren aus dem Ort geflohen, 400 Männer zur Wehrmacht einbe- rufen worden und weitere 300 mit einemBataillon des Volkssturms im Einsatz. „An ihre Stelle“, so endete die kleine Analyse, „sind Evakuierte aus Jülich getreten.“ - Auf die Folgen einer solchen Be- völkerungsverschiebung wird mit Blick auf Jüchen noch intensiver einzugehen sein. Die innerhalb kürzester Zeit besetzten Städte und Dörfer west- lich des Rheins wurden zunächst zu Durchgangsstationen der alli- ierten Nachschubkonvois, denn der Krieg war ja längst noch nicht beendet. Unter dieser Voraussetzung waren die alliierten Streitkräfte durchaus froh, dass die von NS-Seite angeordnete Evakuierung aufgrund des schnellen Vormarschs nicht mehr durchgeführt wor- den war. Die in ihren Augen positive Folge war, dass sie jetzt auf mehr deutsche Beamte zurückgreifen konnten, „die sich für die Militärregierung als nützlich erweisen dürften“, weil sie in der Lage waren, erste rudimentäre, aber dringend erforderliche Verwaltungs- strukturen aufzubauen. Daher wurden viele der beim Einmarsch angetroffenen Beamte zunächst noch eine Weile in ihren Positionen belassen. Wer nicht aus dem Linksrheinischen geflohen war, so glaubten die Alliierten, würde wohl nicht allzu viel auf dem Kerbholz haben. Deshalb be- gann eine nähere Überprüfung des deutschen Verwaltungspersonals erst, wenn die allernötigsten, der Sicherheit und der Beweglichkeit der US-Armee dienenden Stabilisierungsmaßnahmen eingeleitet waren. Wichtiger war es, dass überhaupt ein deutscher Verwal- tungskörper existierte, an den die Alliierten ihre Anweisungen richten konnten, die „immer zuerst die militärisch notwendigen Reparaturen“ betrafen. ZWANGSARBEIT Mit reinen „Reparaturarbeiten“ war es hinsichtlich eines besonde- ren Phänomens nicht mehr getan, das sich in den Folgemonaten sowohl für die Besatzungsmacht als auch für die Bevölkerung ei- niger Orte unter dem Schlagwort der „Displaced Persons“ zu einem – so Klaus-Dietmar Henke - „Mammutproblem“ auswach- sen sollte: Nicht nur die Evakuierung der einheimischen Bevölke- rung in rechtsrheinische Gebiete war gescheitert, sondern auch das große Heer von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern hatte nicht mehr systematisch in das Innere des Reiches zurückgeführt werden können. Nach Schätzung der Westalliierten waren rund 300.000 bis 350.000 von ihnen auf der linken Rheinseite verblie- ben und mussten dort nun zunächst untergebracht und versorgt werden. Weil nicht zuletzt Jüchen hart hiervon getroffen wurde, sollen hier zum besseren Verständnis des Gesamtphänomens kurz die Gründe und die Bedingungen des Zwangsarbeitereinsatzes im Kreis Grevenbroich skizziert werden. 92 Die Landwirtschaft war auch während des ZweitenWeltkrieges vorwiegend von personalintensiver Handarbeit geprägt. Ob Ge- treide-, Heu-, Gemüse- oder Kartoffelernte: stets waren viele Men- schen im Einsatz; das Melken der Kühe erforderte permanente Anwesenheit und je nach Größe des Viehbestandes zahlreiche Hände. Aussaat, Feld- und Viehpflege, Schlachten: die Aufzählung der in den ländlichen Regionen des Niederrheins anfallenden Tä- tigkeiten zur Bewirtschaftung der Höfe ließe sich fortführen. Zugleich rissen die immer zahlreicheren Einberufungen zur Wehrmacht hier empfindliche Lücken, denn schon der Wegfall eines Knechts und erst recht natürlich jener des Bauern war kaum zu kompensieren. Daher ließ man auch am Niederrhein schnell etwaige Bedenken fallen und setzte bereits seit Oktober 1939 polnische Kriegsgefangene als Arbeitskräfte in der Land- wirtschaft ein. Aus dem spätestens ab Mitte 1941 unstillbaren Personalbedarf der Wehrmacht resultierte die Rekrutierung neuer Personengruppen für die deutsche (Land-) Wirtschaft: Den polnischen Kriegsgefangenen folgten ab Mitte 1940 fran- zösische, belgische oder niederländische Soldaten, bis dann ab Herbst 1941 und in verstärktem Maße seit 1942 sowjetische Kriegsgefangene und insbesondere das große Heer der „Ostar- beiter“ das Hauptkontingent an ausländischen Arbeitskräften stellten.

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