Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

140 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM WESTEN Behandlung wurden die imMärz 1940 erlassenen „Polen-Erlasse“, die die polnischen - und in modifizierter Form später dann auch die sowjetischen - Arbeitskräfte diskriminierten. Ihnen wurde bei Nichtbeachtung der zahlreichen Restriktionen „Zwangsarbeit im Konzentrationslager“ oder „eine mehrjährige Unterbringung in einemArbeitserziehungslager“ angedroht. Diese Vorschriften fan- den schnell flächendeckende Verbreitung, wurden von den Ge- meindeverwaltungen direkt an die Arbeitgeber, also auch an die ortsansässigen Landwirte, weitergeleitet und fanden so bis in die kleinsten Dörfer hinein Anwendung, ohne das den Quellen hier- über Näheres zu entnehmen wäre. Nach der Kriegswende von Stalingrad wurde nochmals nach- drücklich auf die Verhaltensvorschriften gegenüber Zwangsarbei- tern aufmerksam gemacht. In der NS-Tageszeitung „Volksparole“ wurden die Bauern des Grevenbroicher Kreisgebietes Mitte Ok- tober 1943 unter der Schlagzeile „Kriegsgefangene bleiben Feinde“ deutlich vor einem freundlichen Umgang mit ihnen gewarnt. Es sei „fast erschreckend festzustellen“, so hieß es dort, „wie gleichgültig vielen das Verbot des Umgangs mit Kriegsgefangenen“ sei. „Die Strafen sind hoch und müssen zwangsläufig noch höher werden, um Abschreckungswirkung zu haben, wenn die öffentliche Beleh- rung undWarnung nichts nutzt“. Es seien, so wurde betont, zumeist einheimische Frauen, „die sich über alle Hemmungen hinwegset- zen“ würden. Während jeder „Umgang“ mit Kriegsgefangenen strafbar war, stand ein Kontakt mit „sog. Zivilgefangenen“ immer- hin imErmessen jedes einzelnen. „Aber jeder anständige Deutsche wird auch den Umgang mit diesen auf das notwendige Maß be- schränken“. Nicht alle zur Arbeit in Deutschland gezwungenen Menschen waren den diskriminierenden, menschenverachtenden und damit physisch wie psychisch belastenden Lebensumständen gewachsen. So warf sich Ende März 1944 ein 30-jähriger russischer Zwangs- arbeiter amKleinenbroicher Bahnhof vor einen Zug, und in Glehn setzte ein bei einem Bauern beschäftigter Ukrainer im November 1942 seinem Leben durch Erhängen ein Ende. Dies sind nur zwei zufällig überlieferte Beispiele aus einer sicherlich weitaus größeren Zahl solcher Schicksale. „Es sind arme Leute. Fern der Heimat!“, notierte der Glehner Pfarrer Wiesebrock angesichts solcher Ereig- nisse in der Pfarrchronik. Zahlen zum Einsatz von Zwangsarbeitern liegen für den Nie- derrhein nur sehr bruchstückhaft vor. Im April 1943 waren von den im Arbeitsamtsbezirk Neuss beschäftigten 46.512 Menschen immerhin fast 30 Prozent ausländischer Herkunft; bei den Män- nern belief sich dieser Wert auf nahezu 34 Prozent. Solche — im negativen Sinne - beeindruckenden Zahlen erlauben jedoch ledig- lich vage Rückschlüsse auf die Situation in den Dörfern. Das Ende der Zwangsarbeit am Niederrhein kam in Etappen. Mitte September 1944 wurden angesichts des schnellen Vormar- sches der Alliierten die der Wehrmacht unterstehenden Kriegsge- fangenen in weiter östlich gelegene Gebiete abtransportiert, wäh- rend die Zivilarbeiter weiterhin auf denHöfen beschäftigt blieben. Nachdem sie lange darauf hatten warten müssen, werden sie den Tag ihrer Befreiung und die Zeit danach wohl in vollen Zügen ge- nossen haben. Schnell galt es dann jedoch – wie eingangs erwähnt – sie angemessen unterzubringen und zu verpflegen, bis sie nach dem offiziellen Ende des Krieges in ihre Heimatländer zurückge- führt werden konnten. Welche Folgen das insbesondere für Jüchen haben sollte, gilt es an anderer Stelle ausführlich zu erörtern. BESATZUNGSHERRSCHAFT, VERWALTUNG UND POLITIK Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete am8. Mai 1945 nicht nur der ZweiteWeltkrieg, sondern auch die staatliche Existenz des Deutschen Reiches. Deutschland war weitgehend zerstört und von alliiertenTruppen besetzt; die Nieder- lage war vollständig und eine deutsche staatliche Autorität nicht mehr vorhanden. Die deutschen Behörden wurden nicht nur von „Polen-Erlasse“ Die so genannten „Polen-Erlasse“ vom 8. März 1940 waren eine aus zehn Dokumen- ten bestehende Sammlung von Verordnun- gen, die die Arbeits- und Lebensbedingun- gen der polnischen Zivilarbeiter regeln sollten. Mit ihnen wurde ein Sonderrecht in- stalliert, das versuchte, ideologische Vor- stellungen des NS-Regimes und wirtschaft- liche Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Die Erlasse dienten der Diskrimi- nierung polnischer Arbeiter und fanden ihre Begründung in dem rassistischen Bild vom „slawischen Untermenschen“, der mit gerin- ger Intelligenz und niederen Instinkten aus- gestattet sei. Die Anordnungen umfassten u.a. folgende Vorschriften: — Kennzeichnungspflicht für polnische Zwangsarbeiter (ein „P“ musste deut- lich sichtbar an jedem Kleidungsstück befestigt werden) — Geringere Löhne als für deutsche Ar- beiter — Weniger und/oder schlechtere Verpfle- gung als für Deutsche — Verbot, den Aufenthaltsort zu verlassen — Ausgangssperre ab der Dämmerung — Verbot, Geld oder Wertgegenständen, Fahrrädern, Fotoapparaten oder Feuer- zeugen zu besitzen — Verbot des Besuchs von Gaststätten oder Tanzveranstaltungen — Verbot der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln — Strengstes Kontaktverbot zwischen Polen und Deutschen, selbst der ge- meinsame Kirchenbesuch. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion wur- den mit den „Ostarbeiter-Erlassen“ vom 20. Februar 1942 noch schärfer gefasste Be- stimmungen für sowjetische Kriegsgefan- gene und Zivilarbeiter (so genannte „Ostar- beiter“) verfügt.

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