Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

141 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM WESTEN den Besatzungsmächten eingesetzt, sondern auch streng kontrolliert. Der Alltag der Nachkriegsbevölkerung war stark von Hoff- nungslosigkeit und Apathie sowie der Sorge um vermisste Ange- hörige geprägt. Die Sieger fanden zumeist unterwürfige und abge- stumpfte Menschen vor, die sich einerseits als Besiegte, zumeist aber zugleich auch als unschuldige Opfer fühlten. Die Alliierten reagierten überrascht, denn sie hatten begeisterte Nationalsozia- listen erwartet und wunderten sich nun, dass die Bevölkerung in ihrem größten Teil nun ebenso fassungslos wie sie selbst vor den schier unvorstellbaren Verbrechen stand, die in den Jahren zuvor in deutschem Namen verübt worden waren. Mitleid durften die Deutschen angesichts dieser Gräuel allerdings nicht erwarten. Die Sieger kamen zwar auf unbestimmte, in jedem Fall aber lange Zeit. So richteten sich auch die Briten, nachdem sie im Juni 1945 das Gebiet ihrer künftigen Besatzungszone übernommen hatten, darauf ein und setzten die zerstörte Infrastruktur, soweit sie es für ihre militärischen Zwecke als notwendig erachteten, zu- nächst notdürftig instand. Die Einteilung in vier Zonen erwies sich für eine effektive Besatzungspolitik sehr bald als problematisch, denn weil Beschlüsse im übergeordneten „Kontrollrat“ der vier Besatzungsmächte einstimmig gefasst werden mussten, waren Kon- flikte vorprogrammiert. Die deutsche Bevölkerung nahm hiervon aber kaum etwas wahr, weil für sie jeweils die Militärregierung ihrer Zone und deren lokale Vertretungen die oberste Instanz dar- stellten. Sie regelten den Alltag, erteilten Befehle, verteilten die knappen Ressourcen, setzten deutsche Amtsträger ein und lösten sie wieder ab, wenn sie ihren Erwartungen nicht entsprachen. Unter solchen Umständen durfte und konnte sich neues politi- sches Leben zunächst nur auf der untersten Ebene regen. Dabei spielten in den Kommunalverwaltungen, die ja der Besatzungs- macht verantwortlich waren, Parteien zunächst praktisch keine Rolle. Es war allein das leidliche Funktionieren einer rudimentären Verwaltung auf Lokal- und Kreisebene und die Erledigung der dringendsten Arbeiten, für das sie zur Zufriedenheit der lokalen Militärregierung Sorge zu tragen hatten. Dass das nicht immer leicht zu bewerkstelligen war, liegt auf der Hand, und es waren nicht zuletzt die Beschäftigten der kleinen Verwaltungseinheiten in den Dörfern, die erstaunt, oftmals kopfschüttelnd und weitge- hend hilflos die Anweisungen lasen, die ihnen aus der Grevenbroi- cher Kreisverwaltung auf den Schreibtisch flatterten. Es war vielfach dem Improvisationsgeschick der vor Ort Tätigen sowie den wei- terhin oder wieder intakten dörflichen Netzwerken zu verdanken, dass Vieles erledigt werden konnte, was unter den chaotischen Ver- hältnissen der „Zusammenbruchgesellschaft“ zunächst unmöglich erschien. Mit entsprechender Verzögerung vollzog sich allmählich die Bildung politischer Parteien. Zunächst war laut westalliierter Di- rektive jede politische Tätigkeit von der Genehmigung der Mili- tärregierung abhängig. Auch Rede-, Presse- und Religionsfreiheit wurde den Deutschen zunächst nur soweit zugestanden, wie da- durch militärische Interessen nicht beeinträchtigt wurden. Das hieß aber zugleich, dass nicht nur die Verbreitung von nazistischen, militaristischen und nationalistischen Lehren, sondern auch „Auf- märsche militärischer, politischer, ziviler oder sportlicher Art“ zu- nächst grundsätzlich verboten waren. HUNGER, WIRTSCHAFT UND WÄHRUNGS- REFORM Die äußeren Folgen des jahrelangen Krieges waren für jeden sicht- bar: In den deutschen Städten war weit mehr als die Hälfte des Wohnraums den Bomben zum Opfer gefallen, die meisten Brü- cken über die großen Flüsse waren zerstört und die Verkehrsadern gelähmt, was sich in mehrfacher Hinsicht als eines der elementars- ten Nachkriegsprobleme erweisen sollte. Das tatsächliche Ausmaß der wirtschaftlichen Notlage in Deutschland zeigte sich aber nicht sofort, weil das deutsche Wirtschaftspotenzial wegen der über das Kriegsende geretteten Rohstoffvorräte im ersten Nachkriegsjahr noch für eine bescheidene Produktion und die Bestreitung des Existenzminimums ausreichte. Zunächst verfügte insbesondere die Bevölkerung in ländlichen Gebieten nach Beobachtungen der Alliierten über ausreichend Lebensmittel. „Es gab bei den Deutschen, auf die wir trafen, kaum Anzeichen von Leiden, noch weniger von wirklichem Elend“, berichteten amerikanische Militärbeobachter am 10. März 1945 aus dem westlichen Rheinland. Die meisten der zu- rückgebliebenen Familien hatten offenbar einen ausreichenden Lebensmittelvorrat angelegt und zudem ihre Gärten bestellt. „Die Struktur der Lebensmittelversorgung ist immer noch die der lokalen Autonomie“, resümierte daher das Alliierte Ober- kommando Anfang April 1945. Jede Gemeinde lebe von ihren eigenen Vorräten und von dem, was in der ländlichen Umgebung beschafft werden könne. 93 Hierbei handelte es sich jedoch lediglich um ein Strohfeuer, denn im Laufe des Jahres 1946 spitzen sich die durch die schweren Schäden am deutschen Verkehrsnetz verstärkten Versorgungspro- bleme stetig zu, was an anderer Stelle am Beispiel von Jüchen und Umgebung noch detailliert zu zeigen sein wird. Es folgte der strenge Winter 1946/47, in dessen Verlauf die Lage zu einer existentiellen Krise eskalierte, in deren Verlauf Ernährung, Energieversorgung und Transportsystemweitgehend zusammenbrachen. Nur das Ein- greifen der Westalliierten verhinderte das Schlimmste. Schon die nackten Zahlen waren erschreckend: Der durch- schnittliche tägliche Kalorienverbrauch war in Deutschland von 3.113 im Jahre 1936 bis zum Frühjahr 1945 schrittweise auf 2.010 gesunken, um 1946/47 dann bei nur noch durchschnittlich 1.451 täglichen Kalorien einen Tiefstand zu erreichen, der regional und lokal zudem häufig mit weniger als 1.000 Kalorien sogar noch deutlich unterschritten wurde. Besonders negativ fiel dabei der Mangel an tierischemEiweiß und Fett ins Gewicht. Hatte die deut-

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