Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
142 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM WESTEN sche Landwirtschaft vor 1939 die Ernährung imReichsgebiet noch zu 80 Prozent sichern können, war dieser Wert 1946/47 – nicht zuletzt wegen des Wegfalls der landwirtschaftlichen Nutzflächen im Osten - auf nur noch 35 Prozent gesunken. Die Versorgungsproblematik kann als politisches und soziales Phänomen für die Nachkriegszeit kaum hoch genug eingeschätzt werden, zumal sie durch die Ankunft immer neuer Flüchtlinge und Vertriebener weiter verschärft wurde. Der Mangel an Kohle und Lebensmitteln bestimmte nicht nur in erheblichemMaße die Besatzungspolitik der Alliierten, sondern die in praktisch allen Be- reichen auftretenden Engpässe zeitigten weitreichende Rückwir- kungen auf die Stimmungslage der Bevölkerung - Ausgangsbedin- gungen, die der Herausbildung demokratischen Bewusstseins, politischen Engagements und einer „Willkommenskultur“ für die neuen Mitbürger aus demOsten Deutschlands nicht eben förder- lich waren. Die Versorgungslage der erstenNachkriegsjahre verkomplizierte und verschärfte sich durch den Umstand, dass der Bedarf an Nah- rungsmitteln und die Notwendigkeit einer allgemeinen industriel- len Produktionssteigerung in einen „Teufelskreis“ führten, aus dem bis in das Jahr 1948 hinein kein praktikabler Ausweg gefunden wurde. Aus demNahrungsmittelmangel entwickelte sich eine viel- gliedrige Kausalkette, mit der sich die verschiedensten Instanzen – zumindest auf legale Weise – erfolglos auseinandersetzten. Es reihte sich Krisensituation an Krisensituation, in denen kriegsbe- dingte Probleme mit widrigen Naturerscheinungen zusammentra- fen, die besonders krass in dem ungewöhnlich strengen Winter 1946/47, den Hochwasserkatastrophen im Frühjahr und schließ- lich einer Dürre im Sommer 1947 zu Tage traten. Zur Ernährungskrise gesellte sich die Kohlenkrise, die nicht nur die Industrie, sondern auch die Privathaushalte hart traf, da wegen fehlendem Hausbrand kaum noch gekocht und in der kalten Jah- reszeit praktisch nicht mehr geheizt werden konnte. Und schließlich standen gerade den Kommunen so gut wie keine Materialien zur Verfügung, um denWiederaufbau zerstörtenWohnraums oder gar eine Belebung des am Boden liegenden Wohnungsbaus zu unter- stützen. Dabei war das – nicht zuletzt angesichts der heranrollenden Flüchtlingswelle – eine der dringendsten Tagesfragen. Aufgrund der Bevölkerungsverschiebungen nahm die Gesamtbevölkerung in den vier deutschen Besatzungszonen nämlich von einemVorkriegs- stand von knapp 50 Millionen im Jahr 1939 allein bis zum Jahr 1946 auf fast 66Millionen zu. Dieser Zunahme stand aber – wieder imVergleich zu 1939 - deutlich wenigerWohnraum zur Verfügung, waren durch Kriegseinwirkungen doch 2,25MillionenWohnungen total zerstört und weitere 2,5 Millionen beschädigt worden. Die dringenden Wiederaufbauarbeiten wurden jedoch aus verschiede- nen Gründen erschwert: Eine ganze Generation von Männern fiel praktisch aus. Das Männer-Frauen-Verhältnis lag in den vier Zonen 1946 bei etwa 80 zu 100, wobei der Anteil der besonders leistungs- fähigenMänner imAlter zwischen 25 und 40 Jahren von 27,3 Pro- zent im Jahr 1939 dramatisch auf 17,6 Prozent im Jahr 1946 zu- rückgegangen war. Und jenen, die Reparieren und Bauen konnten und wollten, fehlten die notwendigsten Baumaterialien, umder zu- nehmendenWohnungsnot zumindest ansatzweise Herr zu werden. Auf all diese Engpässe und die daraus resultierenden Probleme wird mit Konzentration auf das heutige Jüchener Gemeindegebiet aus- führlicher zurückzukommen sein. Um zumindest den schlimmsten, weil existenzgefährdenden Ausprägungen der krisenhaften Kriegs- und Nachkriegszeit be- gegnen zu können, hatte sich bereits vor Kriegsende – insbesondere in den Städten - ein Schwarzmarkt etabliert, der das von den Alli- ierten beibehaltene staatliche Bewirtschaftungssystem des Dritten Reiches unterlief und in Teilen außer Kraft setzte. Angesichts der relativen Wertlosigkeit des Geldes sah sich der „Normalverbrau- cher“ auf Schwarzhändler und Schieber angewiesen, da auf offi- ziellem Wege das Lebensnotwendige kaum zu erhalten war. Das führte dazu, dass Zigaretten zumwichtigsten Zahlungsmittel wur- den, für das auf dem Schwarzen Markt fast alles zu haben war. Deutschland fiel zunehmend in einen eher archaischen Zustand der Naturalwirtschaft zurück, in der im Rahmen von „Kompensa- tionsgeschäften“ Waren nur noch gegen Waren getauscht werden konnten. Beschäftigte hielten sich nur noch tageweise an ihren Arbeitsplätzen auf und versuchten ansonsten ihren Lohn, der eben- falls zum Teil aus Waren, den sogenannten „Deputaten“, bestand, bei Fahrten auf das Land gegen Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs einzutauschen. Und hier warteten dann jene Bauern, die auf ihren Höfen genau das erwirtschafteten, was den meistenMenschen fehlte. Hinzu gesellten sich die Phänomene der Felddiebstähle und des Abholzens ganzer Wälder, weil den Men- schen wegen des Mangels an Kohlen kein Material zum Heizen und Kochen mehr zur Verfügung stand. Angesichts einer derart angespannten Lage stieß kaum einer der Potsdamer Beschlüsse der Alliierten in Deutschland auf so viel Unverständnis und Erbitterung wie jener, die Kapazität der deut- schen Wirtschaft planmäßig zu verringern. Die damit einherge- hende Demontage von Industriebetrieben sollte sowohl der öko- nomischen Entmilitarisierung als auch dem Aufbau der von Deutschland zuvor geschädigten Volkswirtschaften der Nachbar- staaten dienen. Die Demontage wurde in besonderem Maße in der französischen und der sowjetischen Zone betrieben, während Amerikaner und Engländer hiervon weitaus weniger Gebrauch machten. Wäre der vom alliierten Kontrollrat am 26. März 1946 festgelegte Industrieplan in Gänze realisiert worden, hätte das eine Reduzierung der deutschen Produktionskapazitäten auf den Stand des Krisenjahres 1932 bedeutet. ImAugust 1947 wurde schließlich ein revidierter Plan für die amerikanisch-britische „Bizone“ veröf- fentlicht, der zwar Produktionsbehinderungen lockerte, aber das Gebiet nicht in die Lage versetzte, sich eigenständig zu versorgen. Die unmittelbaren Folgen der Demontagen waren für die Deut- schen aber eher psychologischer Natur, da sie das verbreitete Gefühl
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