Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
150 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: OST TRIFFT WEST – ANKUNFT IM WESTEN Stunden in ihre Heimatorte zurückgeführt werden - so denn dort ein Zuzug erlaubt war. Als dann dieWelle von Flüchtlingen undVertriebenen das Rhein- land erreichte, wurde die Wipperfürther Einrichtung umgehend in eines der beidenHauptdurchgangslager des Landes Nordrhein-West- falen für diese Gruppe umfunktioniert und sollte letztlich denWeg von mehr als einer Million Flüchtlinge in ihre neuen Heimatge- meinden koordinieren. Auf Befehl der britischen Militärregierung entstanden trotz Materialknappheit und Arbeitskräftemangel in- nerhalb von nur drei Wochen fünf Holzbaracken, die mit ihren 1.100 Betten ein Fassungsvermögen von 3.000 Personen aufwiesen. Später kam noch eine sechste Baracke hinzu. Auf dem Höhepunkt der „Operation Schwalbe“ kam im November 1946 fast täglich ein Transport mit 1.600 bis 1.800 Vertriebenen inWipperfürth an, die – theoretisch - innerhalb von 24 Stundenweitergeleitet werden soll- ten. 112 Nachdem sie registriert, entlaust und ärztlich untersucht wor- den waren, wurden sie bis zumWeitertransport mit 30 bis 50 Perso- nen je Raum in engsten Verhältnissen untergebracht – allerdings bei verhältnismäßig guter Verpflegung. Es zeigte sich jedoch bald, dass Theorie und Praxis erheblich voneinander abwichen und sich die Zustände zusehends verschlech- terten. Spätestens ab 1947 herrschten im Durchgangslager dann völlig inakzeptable Zustände. Wipperfürth galt als „berüchtigt“, was imWesentlichen auf die Diskrepanz zwischen der ursprüngli- chen Zweckbestimmung des Lagers und seiner gewandelten Nut- zung zurückzuführen war. Weil die jeweilige Aufenthaltsdauer – demCharakter eines „Durchgangslagers“ entsprechend - lediglich auf einen Tag beschränkt sein sollte, war es Ende 1945 als Proviso- rium entsprechend primitiv errichtet worden. Die gesamte Möb- lierung der Baracken bestand aus behelfsmäßig übereinanderge- stapelten Bettgestellen mit je einem Strohsack. Die Realität sah dann aber, wie etwa demÄltestenrat des NRW-Landtags imHerbst 1947 berichtet wurde, sehr bald gänzlich anders aus: „Die unhalt- baren Zustände sind dadurch entstanden, dass die eingewiesenen Menschen wesentlich länger als vorgesehen in diesem Lager ver- bleiben mussten, oft wochen- und monatelang dort vegetierten, weil keine andere behördliche Stelle sie aufzunehmen gewillt und in der Lage war. Es handelt sich jetzt auch nicht nur umFlüchtlinge, sondern auch um illegale Grenzgänger aus der östlichen Besat- zungszone ohne jegliche Ausweispapiere.“ Es haperte inWipperfürth nicht nur an einer menschenwürdigen Einrichtung, sondern insbesondere auch an akzeptablen hygienischen Anlagen. Die diesbezügliche Lage der Lagerinsassen kam einer Ka- tastrophe gleich, zu der sich Wanzen, Flöhe und Läuse gesellten. „Die unkontrollierten Massen an Halbwüchsigen und kriminelle Elemente, die dort neben Frauen, Kindern und Greisen in Räumen hausten, schufenmoralisch in keinerWeise vertretbare Verhältnisse. Es bestanden keine Möglichkeiten, eine gründliche Körperpflege durchzuführen, sprich, wederDuschen nochBäder waren vorhanden. Die Menschen kamen wochenlang nicht aus ihren Kleidern. Die Schlafdecken mussten morgens aus Gründen der Organisation ab- gegeben werden, angeblich, um eine Ausbreitung der Läuse zu ver- hindert. Abends empfingen die Lagerinsassen wieder eine Decke, die aber durchaus verlauster und schmutziger sein konnte als die, die sie morgens abgegeben hatten. Eine Entlausung der Baracken vor der Belegung war nicht durchführbar. Das Stroh in den Betten war schon seit einigen Jahren nicht mehr erneuert worden.“ Unter solchen Umständen 113 verwundert es nicht, dass, wie im Juni 1948 berichtet wurde, im Lager Wipperfürth immer wieder Seuchen ausbrachen und Baracken komplett unter Quarantäne gestellt werden mussten. Außerdem war es von rund 500 Kindern ohne Aufsicht und jegliche schulische Betreuung bevölkert. Für etwa 1.500Menschen, die vorwiegend aus Gründen einer geplanten Familienzusammenführung nach Wipperfürth geschickt worden waren, war das Durchgangslager mittlerweile zumWohnlager ge- worden. Die unsäglichen Zustände veranlassten den britischen Militärgouverneur General Robertson im Jahr 1948 das Lager als „Kulturschande“ zu bezeichnen. Der Wipperfürther Stadtdirektor skizzierte Ende 1951 Ge- schichte und Lage des bereits sechs Jahre bestehenden Lagers: Der Ort sei durch dessen Existenz zu einem „Brennpunkt der Not“ und zu einem„Magnet für dasHeer derHeimatlosen“ geworden, weshalb die in der Nähe des Güterbahnhofs gelegene Einrichtung im Volks- mund längst als „Rangierbahnhof der Heimatlosen“ bezeichnet würde. Über das Durchgangslager, das unmittelbar dem Sozialmi- nisterium in Düsseldorf unterstehe, seien bis Ende Oktober 1951 rund 780.000 Flüchtlinge verteilt worden. Der Druck der „unaufhör- lich Nachflutenden“ habe mittlerweile zwar nachgelassen, belaufe sich aber noch immer auf 2.500 bis 3.000 Menschen imMonat. Ankunft von Flüchtlingen im Lager Wipperfürth im September 1947
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