Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

151 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: OST TRIFFT WEST – ANKUNFT IM WESTEN Der Aufbau des Hauptdurchgangslagers Siegen mit einer Kapazität von 2.000 Per- sonen wurde am 22. November 1945 be- schlossen. 114 Wie sein rheinisches Pendant in Wipperfürth wurde auch dieses Lager, das die Flüchtlingsströme in Westfalen ko- ordinieren und leiten sollte, lediglich notdürf- tig in einer ehemaligen Kaserne amWellers- berg eingerichtet, bis es 1951 durch ein neu errichtetes Lager in Unna-Massen ersetzt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten es rund 300.000 Menschen durchlaufen. Über die Zustände im Siegener Lager, die jenen in Wipperfürth offenbar in vielen Punk- ten vergleichbar waren, berichtete der in der „Katholischen Osthilfe“ tätige Flüchtlings- pfarrer Paul Kewitsch im Jahr 1948: „Bis 24 Menschen vegetieren in den Stuben, vier bis fünf Familien bewohnen einen Raum. Un- beschreiblich sind die sanitären Verhält- nisse. Es gibt keine Seife und keine Gele- genheit zum Waschen der Wäsche. Man muss sie gesprochen haben, diese Frauen, denen das nackte Elend ins Gesicht ge- schrieben ist, und die Männer, die kaum mehr eine Zukunft vor sich sehen, und man hat den ganzen Jammer der Menschheit körperlich vor sich.“ 115 Diese Zustände sowie die physische und psychische Verfasstheit der Lagerinsassen versuchte der 1918 geborene Lippstädter Fotograf Walter Nies im April 1948 mit seiner Kamera festzuhalten. 116 Er hatte Mitte der 1930er Jahre seine Leidenschaft für das Fo- tografieren entdeckt. Krankheitsbedingt von Arbeits- und Wehrdienst freigestellt, konnte sich der Autodidakt bald ganz auf die Foto- grafie konzentrieren. Nachdem er seit 1940 zunächst freiberuflich für Tageszeitungen fotografierte, arbeitete Nies von 1942 bis zum Kriegsende für die Bannbildstelle der Lippstädter Hitlerjugend, seit 1943 parallel auch für jene des HJ-Gebiets Westfalen- Süd. So kam er auch an Orte, die anderen verschlossen blieben - etwa die verschie- denen Wehrertüchtigungslager der Hitler- jugend. Nach 1945 setzte er seine Tätigkeit als Pressefotograf fort, um dann ab 1966 das Bild-, Film- und Tonarchiv seiner Hei- matstadt Lippstadt aufzubauen. In der Nachkriegszeit wurde er von kirchli- cher Seite gebeten, die Flüchtlingsarbeit der „Katholischen Osthilfe“ im Erzbistum Pader- born im Bild zu dokumentieren. Der Schwer- punkt seiner ehrenamtlichen Arbeit, so teilte Walter Nies selbst 1997 mit, habe darin be- standen, „Flüchtlinge zu fotografieren und Bildtafeln anzufertigen“, die dann als Wer- bematerial im Rahmen von Spendenaktio- nen insbesondere in den USA zum Einsatz kamen. Barbara Stambolis beurteilt die Flüchtlingsfotografien von Nies so: „Vor al- lem besaß er die Gabe, die Gesichter von Menschen buchstäblich sprechen zu lassen. Er fotografierte Flüchtlinge bei ihrer Ankunft auf Bahnhöfen, Menschen vor Anschlag- wänden mit Suchnachrichten, elternlose Kinder auf demWeg in Erholungsheime, alte Menschen in extremer Verzweiflung, Ju- gendliche in abgerissener Kleidung und phy- sischer wie psychischer Erschöpfung.“ 117 An anderen Stellen dieser Publikation wer- den wir weiteren Fotografien von Walter Nies begegnen. Walter Nies fotografiert im Durchgangslager Siegen

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