Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

164 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: OST TRIFFT WEST – ANKUNFT IM WESTEN Weil nach der Abriegelung der innerdeutschen Grenze und der Außengrenze West-Berlins ab 1952 nur noch die Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin offen und damit weitgehend ge- fahrlos passierbar war, nutzen mehr als 60 Prozent der SBZ-Flücht- linge diesenWeg. Nachdem sie imNotaufnahmelager Marienfelde ihr Aufnahmeverfahren beantragt hatten, wurden sie anschließend auf dem Luftweg nach Westdeutschland transportiert, wo sie zu- nächst in Flüchtlingslagern oder bei Verwandten untergebracht wurden. Die Lebensgeschichte vonWolfgang Kuhn bietet hierfür ein Beispiel. Die Errichtung der Berliner Mauer im August 1961 brachte dann das jähe Ende dieser Massenflucht. 126 Von den ur- sprünglich rund 4,3 Millionen Vertriebenen in der DDR hatten sich bis dahin mehr als eine Million in den Westen abgesetzt. Damit lag der Prozentsatz der „Umsiedler“ an der Gesamtzahl der „Republikflüchtlinge“ deutlich über ihrem Anteil an der Bevölke- rung der DDR. 127 (DORF-) GESELLSCHAFTEN UND STRUKTURWANDEL Bevor die einzelnen Punkte des Umgangs mit dem Problem „Flucht und Vertreibung“ in denWestzonen und in der Bundesre- publik sowie deren Konkretisierung auf lokaler Ebene in den heute zu Jüchen zählenden Gemeinden ausführlich untersucht und dar- gestellt werden, sollen zuvor einige allgemeinere Erörterung zu den Herausforderungen und Veränderungen, die die innerdeutsche „Völkerwanderung“ insbesondere in den ländlichen Gebieten 128 mit sich brachte, vorangestellt werden, um so die oft tiefgreifenden und nachhaltigen Entwicklungen, die durch sie angestoßen wur- den, zumindest zu skizzieren. Das erscheint notwendig, um die zahlreichen aus der Flüchtlingsproblematik erwachsenden Alltags- phänomene und -probleme in ihrer komplexen Gesamtheit besser erkennen und verstehen zu können. Schon im 19. Jahrhundert erschienen Zuwanderer und Fremde, soweit sie nicht deutlich erkennbar zur Wohlstandsvermehrung beitrugen, den Bewohnern von Dörfern und Kleinstädten eher als potenzielle Angreifer auf die begrenzt erscheinenden lokalen Res- sourcen. 129 Hinzu kam, dass man weder das Verhalten der Fremden noch den Grad einschätzen konnte, wie stark sie der Gemeinschaft etwa durch Krankheit oder Bedürftigkeit auch wirtschaftlich zur Last fallen konnten. Passten sich die Fremden dann aber zumindest äußerlich an und hatten zudem beruflichen Erfolg, wurden ihnen in der Regel auch Integrationschancen eröffnet. Der Zustrom von Flüchtlingen nach 1945 muss allein aufgrund seiner reinen Menge im Vergleich dazu als ein weitaus tiefer ge- hender Prozess begriffen werden. Er traf viele Regionen in West und Ost mit großer Wucht und führte häufig dazu, dass nicht nur die Einwohnerzahlen oft abrupt in die Höhe schossen, sondern sich auch die beschauliche „heile“ Welt der Dörfer nachhaltig ver- änderte. Da konnten die Flüchtlinge und Vertriebenen in den Au- gen der Ortsansässigen schnell zu einem „kollektiven Ärgernis“ werden. Das Szenario, das es in den folgenden Kapiteln differenziert zu analysieren gilt, gestaltete sich dabei zumeist so: Zunächst führte der quantitativ enorme ZustromvonVertriebenen und Flüchtlingen zu regelrechter Wohnungsnot, die durch Zwangseinquartierungen nicht gelöst, sondern subjektiv geradezu verschärftwurde. Das zwang- hafte Zusammenwohnen von Zugezogenen, die gerade ihren Hei- mat-, Besitz- und Statusverlust zu verkraften hatten, und Einheimi- schen, die glaubten, eigene materielle und immaterielleWerte gegen die Einströmenden verteidigen zumüssen, führte zu vielfältigen und kleinlichen Konflikten. Vielfach differierten zudem Konfessionen, Berufsbildung und kulturelle Vorerfahrungen beider Gruppen. Durch die akute Not unmittelbar nach Kriegsende häuften sich Felddiebstähle, wobei die durch die Behörden in die Dörfer Einge- wiesenen oft vorschnell als Schuldige vorverurteilt wurden. Durch die Nachfrage der Zugezogenen nach lebenswichtigen Gütern dezi- mierte sich außerdem auch noch das lokale Warenangebot. Untersuchungen zur Situation der Flüchtlinge in ländlichen Gebieten der Bundesrepublik legen den Schluss nahe, dass der „ländliche Sozialkörper“ bis zu deren Ankunft noch weitgehend unversehrt war. 130 Dadurch sahen sich die Ankömmlinge mit einem geschlossenen, lokalen Traditionen verhafteten „Sozialmilieu“ kon- frontiert, dessen Leitbilder den Lebensbedingungen der Flüchtlinge zumeist diametral entgegenstanden, was in der eingesessenen Be- völkerung ein kollektives Gefühl der Bedrohung entstehen ließ. Hieraus entwickelten sich unterschwellige, nicht selten aber auch offen ausgetragene Auseinandersetzungen, die das Zusammentref- fen von Dorfbewohnern und Flüchtlingen in erster Linie als eine „Konfliktgeschichte“ erscheinen lassen. Denn mit der Einquartierung von Flüchtlingen und Vertriebe- nen auf dem Land zeigte sich sehr bald, dass sie nicht nur offen- sichtliche Probleme wie jene von Unterbringung, Versorgung und Arbeitsbeschaffung nach sich zog, sondern dass die Alteingesesse- nen – eher instinktiv als real belegbar – die überkommene Struktur ihrer Wohnorte bedroht sahen. Viele Dörfer waren vom Krieg weitgehend oder völlig unberührt geblieben, so dass oftmals erst die Ankunft von Flüchtlingen und Vertriebenen den Einheimischen vor Augen führte, dass nun auch sie sich einer bedrohlichen Kri- sen- und Umbruchsituation gegenüber sahen. Das alles empfanden sie als massive Bedrohung ihrer bis dahin weitgehend geschlossenen Lebenswelt und deren „alteingewurzelten Lebensordnung“. Durch den unverhofftenMassenansturm drohten die Dörfer mit ihrer bis dahin unangetasteten sozialen Geschlossenheit sozusagen ihr „Ge- sicht“ zu verlieren oder zumindest erheblich zu veränderten. Die „unpassende“ Konfessionszugehörigkeit vieler „Neuer“ barg zu- sätzliches Konfliktpotenzial. Daneben brachten sie auch fremde Bräuche, Dialekte und Lebenserfahrungen mit. All das mündete in Prozesse, die bereits in den 1950er Jahren erstmals als „Revolu- tion des Dorfes“ klassifiziert wurden. 131

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