Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
165 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: OST TRIFFT WEST – ANKUNFT IM WESTEN Seitdem beschäftigt sich die Forschung mit der Frage, inwieweit der Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen modernisierende Auswirkungen auf die westdeutsche Gesellschaft gehabt habe. Hier- bei wird auch gefragt, ob sich im Laufe der ersten Nachkriegsjahr- zehnte nicht die jeweilige Dorfbevölkerung ebenso die zu ihr „pas- senden“ Flüchtlingen ausgesucht habe wie jene sich „ihr“ Dorf, in dem sie an Vertrautes aus der Heimat anknüpfen konnten. Grund- lage solcher Überlegungen ist die stark erhöhteMobilität der Nach- kriegsgesellschaft, die es angesichts einer boomenden Wirtschaft ermöglichte, nicht genehme Wohnorte kurzerhand zu verlassen, um sich an vermeintlich besserer Stelle niederzulassen. 132 Bei der Erörterung solcher Phänomene gilt es aber sehr genau zu differenzieren. 133 So wäre etwa danach zu fragen, inwieweit in ländlichen Regionen nicht bereits vor 1933 beginnende Struktur- wandlungsprozesse vom reinen Bauerndorf zurWohnortgemeinde eine Eingliederung von Flüchtlingen erheblich begünstigt und spä- tere Abwanderungen verhindert haben könnten. Gerade mit Blick auf den Niederrhein gesellen sich weitere Aspekte hinzu: Dort gab es in vielen, zumal grenznahen Dörfern bereits zuvor Erfah- rungen mit ausländischen Arbeitern, die dort lange vor der NS- Zeit als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft oder in der Industrie beschäftigt worden waren. Und gerade hinsichtlich der Jahre des Bombenkriegs und der frühen Nachkriegszeit ist stets auch zu fra- gen, wie die dörflichen Erfahrungen mit Evakuierten und oft dau- erhaft Umquartierten aus den bombengeschädigten Großstädten ausfielen. Je nach Untersuchungsergebnis wäre dann weiter zu erör- tern, ob es sich bei den dörflichen Wandlungsprozessen der Jahre nach 1945 tatsächlich um etwas Neues oder nicht lediglich um eine – allerdings extreme - Eskalation schon länger aktiver Anpas- sungszwänge an aktuelle Entwicklungen gehandelt hat. Auch die oft gravierenden Unterschiede, die im Verhalten ein- zelner Dorfgemeinschaften zu beobachten waren, dürfen keinesfalls außer Acht gelassen werden. Studien haben ergeben, dass die Hal- tung der Dorfbevölkerung nicht selten von derenHauptvertretern - den „Dorfeliten“ - erheblich beeinflusst wurden. Das konnte dazu führen, dass ein Dorf, dass sich völlig gegen alles Neue abschottete, unmittelbar neben einem anderen lag, das die mit einem Zuzug verknüpfte Chance ergriff. Folge konnte dann der Umzug vieler Flüchtlinge von einer in die andere Ortschaft sein, die dann dort dazu beitrugen, die Modernisierung voranzutreiben. Diese sei, darin ist sich die Forschung weitgehen einig, bei solchen Gelegen- heiten aber nicht ganz einfach „vom Himmel gefallen, indem sie sich automatisch durch die Präsenz einer städtisch geprägten Flücht- lingsbevölkerung auf dem Lande ergeben“ habe, sondern es seien stets Flüchtlinge und Einheimische gemeinsam gewesen, die solche Veränderungen bewirkt hätten. So konnten Landgemeinden durch aktiv betriebene Industrieansiedlung Arbeitsplätze schaffen, was dann arbeitsuchende Flüchtlinge animierte, aus abgelegenen Bau- erndörfern in diese zumeist größeren Gemeinden umzuziehen. Es war also nicht die Ankunft der Flüchtlinge als solche, die einen Modernisierungsschub auslöste, sondern der ergab sich erst durch das Zusammenwirken mit den Einheimischen. 134 Alles in allem ist davon auszugehen, dass durch den Zuzug die tradierten dörflichen Lebens- und Denkmuster erheblich, nicht selten gar einschneidend verändert wurden, wobei sich die Orts- ansässigen nach heftiger anfänglicher Ablehnung den neuen An- regungen zunehmend öffneten. Das mündete in einen gegenseitigen Lernprozess, der das bis dahin weitgehend homogene Milieu auf demLande erodieren ließ und zu einer Durchmischung undDurch- dringung von Traditionen und Lebensweisen führte. Dieser Prozess wiederum bedingte eine starke Differenzierung und Erweiterung der dörflichen Lebenswelten und gereichte letztlich allen Betei- ligten zum Vorteil. Auf diese Weise, so eine Forschungsmeinung, hätten die Flüchtlinge und Vertriebenen nicht einen „Moderni- sierungsschub unter konservativem Vorzeichen“ bewirkt, sondern im Gegenteil – gleichgültig ob gewollt oder ungewollt – „ein un- geheuer progressives und die überkommenen Verkrustungen und Beschränkungen sprengendes Element“ dargestellt. Mit anderen Worten: Je offener sich eine Dorfgemeinschaft gegenüber denNeu- ankömmlingen zeigte, desto größer fielen ihre Chancen auf eine Teilhabe an Modernisierungsprozessen aus. Auch wenn solch weitreichende Thesen noch der Unterfütte- rung durch weitere empirische Studien bedürfen, lässt sich an einem wichtigen Teil dörflichen Lebens, Denkens und Handelns bereits jetzt demonstrieren, wie modernisierend der Einfluss der sich hier ansiedelnden Flüchtlinge und Vertriebenen war. 135 Sie er- höhten auf dem Lande die Einsicht in die Bedeutung von Schul- bildung in erheblichemMaße. Das lag einerseits darin begründet, dass eine höhere Schulbildung für die meisten Flüchtlingskinder die einzige erfolgversprechende Aussicht auf Arbeit und zumindest kleinen Wohlstand bot, rührte andererseits aber auch daher, dass in vielen der Flüchtlingsfamilien bereits vor 1945 eine höhere Bil- dung üblich gewesen war, als man sie in westdeutschen Bauern- dörfern gemeinhin für notwendig hielt. Insgesamt sorgten die neuen Schülerinnen und Schüler dafür, dass schulische Bildung auch in kleinen Dörfern dauerhaft einen höheren Stellenwert be- kam und auch den hier aufwachsenden Jugendlichen weitaus grö- ßere Bewegungsfreiheit verschaffte. 136 – Die Erinnerungen von Irmgard Coenen belegen diese Annahme in plastischer Weise für den Jüchener Raum. In Westdeutschland kristallisierte sich sehr bald noch ein wei- teres Element heraus, das Einheimische und Flüchtlinge dauerhaft verbinden sollte: der im Zuge des „ Kalten Krieges“ schnell an Bo- den gewinnende Antikommunismus. Die neuen weltpolitischen Spannungen ebneten gepaart mit den Auswirkungen des „Wirt- schaftswunders“ zuvor existierende Gräben zwischen Einheimi- schen und Zugezogenen zusehends ein.
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