Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

die Wehrmacht zersetzten, er müsse mich eigentlich sofort er- schießen. In dem Augenblick kommen zwei Wehrmachtsange- hörige mit dem Fahrrad, ein Leutnant und ein Soldat, fragen den Posten, was er hier noch mache, er solle sehen, dass er die amerikanischen Truppen im Sudetengau erreiche, wie sie es wollten. Der Krieg sei doch zu Ende. Der wusste nicht mehr wie ihm geschah. Der Volkssturmmann, ein älterer, ich kannte ihn, ging weg und sagte nur, ich muss versuchen, so schnell wie möglich meine braunen Sachen gegen Zivilkleider umzu- tauschen. Er machte nach Hause. Der Soldat verließ seinen Posten nicht. Am andern Morgen des 8. Mai eine Totenstille im Ort und in der ganzen Umgebung, nur der Posten an der Pan- zersperre war noch da. Gegen 11 Uhr rückte die Gruppe des Ortskommandanten ab. Der Kommandant, der Posten an der Sperre und der Volksturmhauptmann rückten erst gegen 1 Uhr ab. Wir hatten uns schon Werkzeuge, Äxte und Sägen bereit gemacht für das Zersägen der Hölzer, falls die Sperre ge- schlossen würde. Wir wollten nicht, dass die Russen die ge- schlossene Sperre sprengen und unsere Häuser mit zerstörten. Wir waren in der Nachbarschaft noch 14 Personen. Männer, Frauen und Kinder hatten sich an der Sperre versammelt. Wie der Kommandant kam, stellten wir uns unter die Sperre, um zu verhindern, dass dieselbe noch geschlossen würde. Wir baten auch darum, davon abzulassen. Er gab dem Posten den Befehl „Sperre schließen“, und wir mussten weichen. Sie machten sich mit Fahrrädern Richtung Friedersdorf auf den Weg. Das war die letzte Handlung der Wehrmacht im Ort. Wir machten uns sofort an die Arbeit, alle waren dabei, und in kurzer Zeit war die Sperre weg, die Bäume zersägt und die Straße frei. Wir warteten auf das Kommen der Russen. Aus den Fenstern wurden weiße Tücher gehängt. Ein alter Mann, der in der Kirche Glöckner machte, beobachtete vom Kirchturm aus Richtung Thiemendorf die Ankunft der russischen Ver- bände. Es war vereinbart, die Kirchenglocken anzuschlagen, wenn der Anmarsch in Sicht war. Gegen 2 Uhr war der An- marsch gesichtet. Mehre beherzte Männer, einer der der rus- sischen Sprache mächtig war und ein Kommunist, gingen mit weißer Fahne den Russen entgegen. Wir erwarteten die Ankunft der Russen. Eine größere Abtei- lung kam von Thiemendorf bis auf die Hauptstraße bei Gastwirt Baum. Sie machten quer durch das Dorf Richtung Gieshübel. Gegen 4 Uhr kamen weitere Abteilungen mitten ins Dorf. Sie besetzten in der Fabrik Ruscheweyh das Gebäude des Direktors, dort wurde die Ortskommandantur einquartiert. In der Ortsmitte wurden Wohnungen mit Offizieren und Mannschaften belegt. In der Nachbarschaft waren fast alle Häuser belegt. Ich hatte die Haustür etwas offen gelassen. Wir erwarteten auch, dass wir Einquartierung bekämen. Ein Jeep fuhr vor dem Hause vor, 2 Offiziere stiegen aus. Sie unterhielten sich eine Weile, stiegen wieder ein und fuhren davon. Wir haben Einquartierung erst nach vielen Tagen für eine Nacht bekommen. Auch kamen keine Russen in die Wohnung. Wir konnten von unserer Küche alles beobachten, was sich auf der Straße und am Fabrikeingang ab- spielte. Die Russen waren von Eliteverbänden. Wir hatten ja alle eine weiße Fahne heraus gehängt. In der Nachbarschaft, uns gegenüber, wohnte ein älteres Ehepaar, ein hoher pensionierter Bahnbeamter. Ein russischer Major mit Bursche war dort eingezogen, die Leute konnten mit in der Wohnung bleiben. Er war unserer Sprache mächtig. Der Bur- sche hatte in Abwesenheit des Majors der Frau die Armbanduhr abgenommen. Die Frau hatte am andern Tag dem Major die Sache erzählt. Der Bursche musste der Frau die Uhr wieder zurückgeben. Das war ein seltener Fall. Gerade an den Tagen wurden Uhren und Schmuck den Leuten abgenommen. Es konnte sich keiner zur Wehr setzten. Wir hatten im Ort einen Lehrer und mehrere Arbeiter, die konnten die russische Sprache perfekt. Hatte einen Gesellen, der hatte im Selbststudium die Sprache erlernt, auch das Schreiben. Das war eine große Hilfe. Auf dem Bürgermeisteramt hatten die Russen einen Kommu- nisten, H. Hübel, einen Deutschen, als Bürgermeister eingesetzt. Er hatte nur als Handlanger der Russen tätig zu sein. Es gab Hausdurchsuchungen, vor allem Uhren und Fahrräder wurden mitgenommen. Es war gefährlich auf die Straße zu gehen. Von 20 Uhr bis 8 Uhr durfte sich keiner auf der Straße sehen lassen. Es fanden Verhaftungen statt, hauptsächlich von denen, die sich in der Parteiarbeit besonders hervorgetan hatten. Sie wur- den abgeführt, und nur wenige kehrten nach Monaten zurück. Die meisten von ihnen blieben verschollen. Alle Rundfunkgeräte mussten abgeliefert werden. Sie wur- den mit Lastwagen abgefahren, viel ist davon nicht mehr übrig geblieben. Aufrufe wurden angeklebt, die besagten, dass nur derjenige, der arbeitete, etwas zu essen bekommt. Ich musste zum Bürgermeister kommen, er erklärte mir, die Stromversor- gung müsste schnellstens wieder erfolgen. Sie war seit dem 8. Mai unterbrochen. Der Kommandant verlangt es. Ich sollte mich darum bemühen. Ein Deutscher, der der russischen Sprache mächtig war, sollte mir Hilfe leisten. Ein kleines Papier in russi- scher Sprache mit Stempel sollte uns dabei gute Dienste leis- ten. Wir mussten zur nächsten Dienststelle vom E-Werk nach Greiffenberg, ca. 7 km, das war ein Himmelfahrtskommando. Wir waren 3 Mann mit Fahrrädern, in Greiffenberg wurde uns 2 Mal von Russen unsere Fahrräder abgenommen, dafür schlech- tere gegeben. Erreichten endlich die Dienststelle in Greiffen- berg. Der frühere Leiter der Dienststelle lag im Bett im Sterben, daneben der russische Kommandant voll betrunken. (…) Wir sind noch bis zum E-Werk nach Marklissa gefahren. Dort konnte ich von dem Werksleiter, den ich kannte, nochmals erfahren, was hier los war. Er sagte, alles wäre noch in Ordnung. Die Ma- schinen könnten sofort wieder in Betrieb gesetzt werden. Er müsste nur von dem russischen Kommandanten den Befehl 17 AUS DEM LEBEN VON FRITZ STÖCKEL

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