Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
173 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Die kamen in aller Re- gel völlig mittellos imWesten an und konnten auch nicht wie viele Einheimische auf Zusatzernährung aus Garten- oder Felderträgen zurückgreifen – von einer Betätigung auf dem Schwarzmarkt ganz zu schweigen. Die Vertriebenen verfügten über keinerlei Tausch- gegenstände, weshalb gerade bei ihnen sowohl der Hunger als auch der Mangel an allemLebensnotwendigen permanent wuchsen und die Verzweiflung entsprechend groß war. 166 Außerdem fehlten den Flüchtlingen oft auch die Möglichkeiten, Mahlzeiten überhaupt zubereiten zu können. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass sie auch hinsichtlich der Versorgung weitaus schlechter gestellt waren als die Bevölkerung vor Ort. Umso mehr waren sie auf private Hilfsbereitschaft angewiesen, denn den kommunalen Verwaltungen war es kaum möglich, die wachsende Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln, Be- kleidung und anderen notwendigen Dingen auszustatten. Bei die- sem für die Nachkriegszeit flächendeckend anzutreffenden Phä- nomen waren durchaus unterschiedliche lokale Ausprägungen anzutreffen, die mit Konzentration auf das Grevenbroicher Kreis- gebiet und hier wiederum speziell auf die Jüchener Ortsteile an anderer Stelle zu untersuchen sind. So viel jedenfalls scheint aber sicher: Bei aller etwaigen Hilfs- bereitschaft blieb die allgemeine Haltung zu den Zugezogenen ge- rade auf dem Lande „wirr und uneinheitlich“. Wurde auf der einen Seite Verständnis für die „Ärmsten der Armen“ gezeigt, das nicht selten durch großzügige Sachspenden und ertragreiche öffentliche Sammlungen auch nach außen hin demonstriert wurde, somangelte es auf der anderen Seite aber auch nie an Ablehnung und Aus- grenzung, die – so hat es den Anschein – immer dann besonders heftig ausfiel, wenn es um privaten Wohnraum ging. 167 RELIGION UND FRÖMMIGKEIT Die Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen imWesten sollte, so bringt es Andreas Kossert auf den Punkt, „das konfessionelle Antlitz Deutschlands verändern wie seit Reformation und Drei- ßigjährigem Krieg nicht mehr“. 168 Im Rahmen eines hiermit eng verbundenen „Traditionstransfers aus dem Osten“ habe die „Stunde der Kirchen“ geschlagen. Die hatten tatsächlich alle Hände voll zu tun, denn oft wurden die Neuankömmlinge in Ge- genden mit völlig anderer konfessioneller Struktur angesiedelt, wo sie dann nicht nur als Vertriebene, sondern außerdem noch als An- dersgläubige auf oft erhebliche Vorurteile stießen. Neben den Ver- lust des sozialen und materiellen Status‘ trat eine „konfessionelle Heimatlosigkeit“, weil je nach zugewiesener Region für Vertrie- bene eine kirchliche Infrastruktur oft gänzlich fehlte. So beklagte sich der Hildesheimer Bischof bei der britischenMilitärregierung, die bei der Verteilung der in ihre Zone strömenden Menschen- massen die konfessionelle Frage vollkommen außer Acht ließ: „Die Flüchtlinge sind in ihrer neuen Umgebung doppelt heimat- los, wenn sie weder Kirche noch Pfarrhaus ihrer Konfession vor- finden“. 169 Folge waren Notlösungen, die oftmals über Jahre Be- stand hatten: Gottesdienste fanden in improvisierter Form in Lagern, Turnhallen und Gasthäusern statt, und sogenannte „Rucksackpfarrer“ betreuten die Gläubigen unter armseligsten Be- dingungen. Immerhin entdeckten Kirchenvertreter in derartigen Notzeiten die Toleranz und stellten sich vielerorts wechselseitig ihre Gotteshäuser zur Verfügung – angesichts der damals noch ex- trem akzentuierten Bekenntnisgrenzen ein durchaus bemerkens- wertes Handeln. Solche versöhnlichen Phänomene waren jedoch eher die Aus- nahme. Es dominierte ganz eindeutig eine klare Trennungslinie zwischen den beiden großen Konfessionen, die sich für die neu im Westen Angekommenen in vielfacher Hinsicht negativ bemerkbar Früher Aufruf des Hilfswerks der Evangelischen Kirche (Vorderseite), Dezember 1945
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