Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

174 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN machte. So wurde beispielsweise das Verhältnis zwischen Quar- tiergebern und Flüchtlingen bei unterschiedlicher Konfession er- heblich belastet. Aber auch sonst äußerte sich die auf unterschied- lichem Glauben beruhende Ablehnung bis hin zu offenen Feindseligkeiten im Alltag immer wieder – ein Problem, das auch den meisten der hier präsentierten Lebensgeschichten zu entneh- men ist. Betroffen waren im vorwiegend katholischen Rheinland in erster Linie die Protestanten, die als „Blauköpp“ diffamiert wur- den. 170 Aber auch untereinander war deren Verhältnis oft einge- trübt, denn die reformierten einheimischen Protestanten begeg- neten ihren zumeist lutherisch orientierten Glaubensschwestern und -brüdern aus demOsten nicht unbedingt herzlich. „Die Flücht- linge bleiben die Fremden und die reformierten Einheimischen bleiben den Flüchtlingen fremd,“ bilanzierte etwa ein nordfriesi- scher Kirchenrat. 171 Zugleich bot sich beiden Amtskirchen in der Flüchtlingsfrage ein schier unüberschaubares Betätigungsfeld. Sie schufen zahlreiche Hilfsstellen und unterstützten so die Arbeit der öffentlichenHand in starkemMaße. Die „Caritas-Vertriebenen- und Flüchtlingshilfe“, der „Katholische Flüchtlingsrat“ oder das „Hilfswerk der Evange- lischen Kirche“ sind nur einige dieser kirchlichen Organisationen, die das Hilfsangebot der staatlichen Stellen ergänzten. 172 Zu nennen ist etwa auch die „Katholische Osthilfe“ des Erzbistums Paderborn, aus deren Arbeit hier zahlreiche Abbildungen des FotografenWal- ter Nies zu sehen sind. 173 POLITIK UND PARTIZIPATION Die Kirchen und deren Angebote waren für die Geflohenen und Vertriebenen weit über die materielle und seelische Hilfe hinaus auch deshalb von großer Bedeutung, weil ihnen seitens der Alliier- ten zunächst jede Form von Organisation untersagt war. Auch die britische Besatzungsmacht lehnte grundsätzlich jedwede Zusam- menschlüsse von Vertriebenen strikt ab. 174 Grund dafür war die Be- fürchtung, eigenständige Flüchtlingsorganisationen könnten deren Eingliederung erschweren und Unruhe schüren. Damit wurde den Neuankömmlingen zunächst jegliches (partei-) politisches Enga- gement erschwert bzw. unmöglich gemacht. Folge davon war, dass ein Teil der sich dennoch bildenden Vertriebenenorganisationen in der ersten Zeit unter demMantel der katholischen und evange- lischen Kirche einen - von den Besatzungsmächten anerkannten - Schutzraum für ihre Tätigkeit suchte. 175 Das Koalitionsverbot galt aber faktisch weiter und verhinderte in den ersten Nachkriegsjah- ren alle Versuche politischer Partizipation. 176 Mit der Jahreswende 1946/47 setzten erste Bemühungen der Vertriebenen ein, imVorfeld der Landtagswahlen eigene Interessen deutlicher zu artikulieren und selbstbestimmt anzumelden. Anfang 1947 lockerten die Briten das Koalitionsverbot dann erstmals, am 24. Juni 1948 ein zweites Mal, so dass sich im Kreis Grevenbroich am1. August 1948 offiziell die „Kreisgemeinschaft der Vertriebenen und Flüchtlinge” mit Sitz in Neuss konstituieren konnte. Es sollte noch bis zum Herbst 1948 dauern, bis Flüchtlingsvereine in den Westzonen offiziell zugelassen wurden – und auch das wiederum nur mit der gravierenden Einschränkung, dass sie keine politischen Ziele verfolgen durften. Das Koalitionsverbot galt grundsätzlich bis nach der ersten Bundestagswahl im August 1949. Es war der einsetzende Kalte Krieg, der die Zulassung von Ver- triebenenorganisationen erheblich förderte und erleichterte. So durfte sich die „Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge“ unter dem neuen Namen „Aufbaugemeinschaft der Kriegsgeschädigten“ im März 1948 als Verein eintragen, und im April 1949 schlossen sich die Landesverbände der Heimatvertriebenen zum „Zentralverband vertriebener Deutscher“ (ZvD) zusammen. Gemeinsam mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und der Schlesier bildete er imNovember 1951 den Bund der Vertriebenen (BdV). 177 „Caritas hilft!“ – Für Spendenaufrufe in den USA gefertigtes Plakat der „Osthilfe“, Oktober 1949

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