Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
176 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN politische Radikalisierung dieser Bevölkerungsgruppe verhindert worden sei. Aber bereits 1957 schied der BHE aus dem Bundestag aus und konnte sich noch bis Ende der 1950er Jahre noch in einigen Landesparlamenten behaupten. 180 Danach verschwand er von der politischen Bildfläche. Neben dem BHE artikulierten sich die Vertriebenenverbände und insbesondere deren Dachorganisation BdV immer deutlicher. EinenHöhepunkt stellte dabei sicherlich die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ dar, die am 5. August 1950 unterzeichnet und einen Tag später im Rahmen einer Massenkundgebung in Stuttgart verkündet wurde. Diese Erklärung stuft die Forschung als „gutes Beispiel für dieMischung aus Radikalität undMäßigung“ ein, die die Politik der Vertriebenenorganisationen fortan bestimmt habe. 181 Die Charta verzichtete zwar ausdrücklich „auf Rache und Ver- geltung“ und forderte die „Schaffung eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“; bestand aber ebenso eindeutig auf dem „Recht auf Heimat“ als grundle- gendem Menschenrecht, das als Recht auf Rückkehr zu verstehen war. 182 Unter dieser Prämisse verstanden es die Vertriebenenver- bände bis in die achtziger Jahre hinein immer wieder, die Öffent- lichkeit, vor allem aber die Nachbarn imOsten, mit radikalen und nicht selten revanchismusverdächtigen Parolen aufzuschrecken. So stellte etwa die schlesische Landsmannschaft ihren „Deutsch- landtag“ 1985 unter die Losung „Schlesien bleibt unser!“ Solch starke Worte, so urteilten Beobachter, sollten wohl eher von einer insgesamt schwachen Position ablenken, als dass sie reale Forde- rungen gewesen wären: „Symbolische Handlungen, propagandis- tische Leerformeln und unrealistische Forderungen wurden zum Ersatz einer nicht realisierbaren Politik.“ 183 Weit entfernt von solch rückwärtsgewandten Forderungen gibt es heute eine Vielzahl von Initiativen, die sich stattdessen der Aus- söhnung und der Kontaktpflege mit den Menschen in den ehe- maligen Vertreibungsgebieten widmen. So haben beispielsweise Sudetendeutsche und Tschechen 2009 gemeinsam die „Marien- bader Erklärung“ verabschiedet, in der es unter anderem heißt: „Wir schließen uns all denen an, die aufgehört haben mit dem ge- genseitigen Aufrechnen der Untaten. Wir wollen alle ermuntern, aufeinander zu hören, miteinander zu reden, und zwar in einem Dialog aus christlichem Ursprung.“ Die Erklärung der 24 Unter- zeichner schließt mit demAppell: „Möge so auch in unseren Hei- matländern ein dauerhafter Frieden einkehren!“ 184 Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ hat fol- genden Inhalt: „ImBewusstsein vor Gott und den Menschen, im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis, im Bewusstsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker haben die erwähl- ten Vertreter von Millionen Heimatvertriebe- nen nach reiflicher Überlegung und nach Prü- fung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine feierliche Erklärung abzuge- ben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen. 1.) Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat. 2.) Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. 3.) Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas. Wir haben unsere Heimat verloren. Heimat- lose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineinge- stellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste tö- ten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und er- lebt. Daher fühlen wir uns berufen zu ver- langen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grund- rechte der Menschheit anerkannt und ver- wirklicht wird. Solange dieses Recht für uns nicht verwirk- licht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wir- ken. Darum fordern und verlangen wir heute wie gestern: 1.) Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags. 2.) Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche Durchfüh- rung dieses Grundsatzes. 3.) Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes. 4.) Tätige Einschaltung der deutschen Hei- matvertriebenen in den Wiederaufbau Europas. Die Völker der Welt sollen ihre Mitverant- wortung am Schicksal der Heimatvertriebe- nen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. Die Völ- ker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht. Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebe- nen, wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verant- wortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordern. Wir rufen Völker und Men- schen auf, die guten Willens sind, Hand an- zulegen ans Werk, damit aus Schuld, Un- glück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“
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