Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
177 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN ARBEIT UND WIRTSCHAFTSWUNDER Allen Beteiligten war angesichts der mehr als ungünstigen Start- verhältnisse im Nachkriegsdeutschland klar, dass die Lösung der zahlreichen mit der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen verknüpften Probleme Zeit beanspruchen würde. Mit der zwar zu- nächst sehr zögerlichen, sich sukzessiv aber erweiternden politi- schen Teilhabe und insbesondere durch den wirtschaftlichen Aufschwung zeichneten sich aber zumindest im Westen bald po- sitive Perspektiven ab. Hinzu kam ein weiterer Faktor: Auch wenn die Vertriebenen an den ersten demokratischenWahlen auf Kreis- und Länderebene zumeist noch nicht hatten teilnehmen dürfen, wurden sie auch für die etablierten Parteien als potenzielleWähler zunehmend wichtig. Dadurch erhöhte sich für diese die Notwen- digkeit, wirkungsvolle Hilfsmaßnahmen in die Wege zu leiten. 185 Der Anfang war alles andere als ermutigend, betraf aber kei- neswegs die Neuankömmlinge allein. Solange dieWährungsreform ausblieb, blühte – wie an anderer Stelle bereits kurz dargestellt 186 - der Schwarzmarkt und zählten Kompensationsgeschäfte mehr als sichere Arbeitsplätze und die Höhe der Löhne. Mit dem 20. Juni 1948 änderte sich das jedoch schlagartig und die bis dahin zumeist verdeckte Arbeitslosigkeit wurde nun offensichtlich. Außerdem wurde deutlich, dass Flüchtlinge und Vertriebene hiervon nicht nur sehr viel stärker betroffen waren als die einheimischen Arbeits- kräfte, sondern die Auswirkungen wegen des Fehlens jeglicher Ver- mögenswerte auch sehr viel stärker zu spüren bekamen. Bei einem Anteil von etwa 16 Prozent an der Gesamtbevölkerung stellten sie im April 1949 in manchen Bundesländern über 40 Prozent der Arbeitslosen. 187 Erst nach der Währungsreform, so fassen Gerhard Brunn und Jürgen Reulecke deren Folgen mit Blick auf die Lage der Vertrie- benen zusammen, habe „die eigentlich brisante Phase der Integra- tion“ begonnen, die dann erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in eine „dauerhafte Normalisierung“ eingemündet sei. Und auch sie stellen fest, dass diese Millionen von Neuankömmlingen unter der nun sichtbar und fühlbar werdenden strukturellen Ar- beitslosigkeit, dem noch völlig unzureichendenWohnungsangebot und dem zunehmenden Zwang zur Mobilität „überdurchschnitt- lich“ hätten leiden müssen. 188 So stieg etwa in Schleswig-Holstein die Zahl der Arbeitslosen von 21.000 Mitte 1949 auf 221.000 zum Ende des Jahres. 58,5 Prozent dieser Arbeitssuchenden waren Vertriebene, die in der Regel auch wesentlich länger arbeitslos blie- ben als ihre einheimischen Kollegen. 189 Die zwar schlecht bezahlten, durch die „Zugabe“ vonNaturalien bis zurWährungsreform aber dennoch sehr begehrten Arbeitsplätze auf Bauernhöfen verloren nach dem 20. Juni 1948 schnell ihre At- traktivität. Im Zeichen des beginnenden „Wirtschaftswunders“ rückte nun die Suche nach gut bezahlten Arbeitsplätzen in den Mittelpunkt des Interesses, die eine neuerliche erhebliche Bevöl- kerungsverschiebung mit sich brachte. Viele Vertriebene zogen vom Land in städtische Regionen, wobei sie selbst einen wenig komfortablen Wohnplatz in einem Lager in einem Industrieort der Wohnung in einem entlegenen Dorf vorzogen. 190 Bis 1953 zo- gen fast zweieinhalb der insgesamt acht Millionen Neuankömm- linge innerhalb der Bundesrepublik erneut um. 191 Allein innerhalb der britischen Zone wurdenHunderttausende Vertriebene, die zuvor in einem der norddeutschen Lager gelebt hatten, nach Nordrhein-Westfalen umgesiedelt. 192 Pauschale Zu- weisungen, wie sie die Bundesregierung im November 1949 in einer ersten Umsiedlungsverordnung vorsah, versuchte man in NRW allerdings zu unterlaufen, weil diese Methode den wirt- schaftlichen Bedürfnissen und den Besonderheiten des nordrhein- westfälischen Arbeitsmarktes nach Ansicht der Verantwortlichen nicht gerecht wurde. Stattdessen wurden direkte Verhandlungen mit den Arbeitsämtern der Abgabeländer geführt, um so ganz ge- „Jeder dritte Arbeitslose ist Flüchtling!“ - Plakat der katholischen „Osthilfe“, Ok- tober 1949
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