Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

178 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN zielt möglichst nur beruflich nachgefragte Umsiedler ins Land zu holen. 193 Dadurch war ein Ortswechsel nicht mehr nur von deren Eigeninitiative, sondern insbesondere von Auswahl und Zuweisung durch die Arbeitsämter abhängig, die wiederum eng mit den Kreis- und Gemeindeverwaltungen zusammenarbeiteten und sich in erster Linie an den Bedürfnissen des boomenden Arbeitsmarktes orien- tierten. Das führte in vielen Fällen zwangsläufig dazu, dass die Ar- beitsaufnahme zunächst vielfach mit einer Trennung von der Fa- milie verbunden war. Auch in diesen Fällen waren also die Geflohenen und Vertriebenen – und hier vor allem die Ehefrauen und Kinder - die Hauptleidtragenden. Erst entsprechende Woh- nungsbauprogramme sollten die Unterbringungsprobleme auf Dauer lösen helfen und Familien wieder zusammenführen. 194 Nordrhein-Westfalen entwickelte sich seit 1949 zum mit Ab- stand bedeutendsten Zuwanderungsland. Laut einer Bilanz aus dem Jahre 1967 war etwa jeder vierte Vertriebene und jeder dritte SBZ- bzw. DDR-Flüchtling an Rhein und Ruhr untergekommen, so dass rund 23 Prozent der NRW-Einwohner zu diesen Perso- nengruppen zählten. 195 Weil ohne den „Motor“ Nordrhein-West- falen das „Wirtschaftswunder“ nicht möglich gewesen wäre, ist auch der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen hieran kaum zu überschätzen. Das Land hätte seine tragende Rolle im ökonomi- schenWiederaufbauprozess Westdeutschlands kaum spielen kön- nen, wenn dort nicht auch die Arbeitskraft, die Kompetenz und die Einsatzbereitschaft von mehr über zwei Millionen Vertriebenen zur Verfügung gestanden hätten. 196 Knapp zwei Drittel der Ver- triebenen, die bis 1953 für die nordrhein-westfälische Wirtschaft angeworben wurden, kamen in den klassischen Grundstoff-, In- vestitions- und Produktionsgüterindustrien unter, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten den Wiederaufbau trugen. 197 Auf dem Lande gingen die Zahlen von Flüchtlingen und Vertriebenen seit Ende 1950 entsprechend deutlich zurück. Im September 1950 leb- ten in der Bundesrepublik aber noch immer 47,2% der Vertriebenen in Gemeinden mit weniger als dreitausend Einwohnern. 198 Die nach der Währungsreform einsetzende positive Entwick- lung des Arbeitsmarktes und die damit verknüpften Hoffnungen auf relativ rasche Aufstiegsmöglichkeiten förderten zweifellos auch die Integration der Zugezogenen. Einheimische und Vertriebene sahen die Notwendigkeit, „gemeinsam die Ärmel hochkrempeln zu müssen“. 199 Erst durch das Wirtschaftswunder wurden die Vo- raussetzungen für eine Eingliederung wesentlich verbessert - sowohl wirtschaftlich und sozial als auch politisch. Ihre oftmals berufs- fremde Beschäftigung und die imVergleich zur einheimischen Be- völkerung geringeren Erwerbschancen glichen die Vertriebenen mit sprichwörtlichem Fleiß, durch hohe berufliche und räumliche Mobilität sowie durch große Leistungs- und Anpassungsbereit- schaft aus. Auch deshalb wurden sie zu einemwesentlichen Element des westdeutschen Wirtschaftsbooms. 200 Allerdings sollten all diese sich seit Beginn der 1950er Jahre abzeichnenden positiven Tendenzen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es vielen Vertriebenen nur sehr langsam gelang, den durch ihre Vertreibung erfahrenen sozialen Abstieg wieder wett- zumachen. 201 Aber natürlich erleichterte die schrittweise Norma- lisierung ihrer Lebensverhältnisse ihre letztlich weitgehend rei- bungslose Integration. 202 LASTENAUSGLEICH Der soziale Abstieg der meisten Betroffenen rührte daher, dass ihre Flucht oder Vertreibung auch eine „gigantische Enteignungsmaß- nahme“ 203 darstellte, die vielen ersatzlos alles nahm, was innerfa- miliär oftmals über Generationen aufgebaut, gepflegt und vererbt worden war. Neben der Heimat waren Haus und Hof, Wertgegen- stände und Geld, Erinnerungsstücke und sämtlicher weiterer Besitz verloren gegangen. Die meisten der im Westen Eintreffenden be- saßen lediglich das, was sie auf dem Leibe trugen und standen damit buchstäblich vor dem „Nichts“. 204 Dem galt es gegenzusteuern, wobei die unterschiedlichsten So- fortmaßnahmen lediglich den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein darstellten und keinesfalls zum Aufbau einer neuen Existenz ausreichen konnten. Um das zu gewährleisten, galt es da- her, einen Ausgleich zwischen jenen zu schaffen, die ihre Güter im Westen weiterhin im privaten Besitz hatten und jenen, die mittel- und oft orientierungslos aus demOsten vertrieben worden waren. So klar das im Grundsatz war, so heftig und kontrovers wurden die öffentlichen Diskussionen über die Umsetzung eines solchen Hilfspakets ausgetragen. Es dauerte einige Jahre, bis endlich Bewegung in die Angele- genheit kam, denn die Westalliierten sahen sich für dieses Thema nicht zuständig und beauftragten Regierung und Parlament des in Entstehung begriffenen westdeutschen Staates, die Lastenaus- gleichsfrage zu regeln. Das führte dazu, dass das am 18. August 1949 erlassene Soforthilfegesetz (SHG) zum ersten grundlegenden Gesetz der am 24. Mai 1949 ins Leben gerufenen Bundesrepublik Deutschland wurde. Wer noch Besitz habe, so der einfache Grund- gedanke des SHG, solle jenen, die alles verloren hatten, davon ab- geben. Obwohl das lediglich drei Jahre gültige Gesetz eine ver- gleichsweise kurze Geltungsdauer hatte, gilt es als eines der wichtigsten Gesetze der deutschen Nachkriegszeit: „Durch seine ausschließlich nach sozialen Gesichtspunkten gewährten Leistun- gen half es denen, die es am dringendsten benötigten, und trug dazu bei, größere soziale Spannungen auszugleichen. Über den So- lidargedanken wurden alle Bürger in das Soforthilfeprogramm ein- bezogen.“ 205 Wie es schon durch den Namen des Gesetzes zum Ausdruck gebracht wurde, handelte es sich eher um ein Provisorium, das baldmöglichst durch eine dauerhafte Lösung zu ersetzen war. Das geschah schließlich am 14. September 1952 durch das „Lasten- ausgleichsgesetz“, das all jene, die nachgewiesenermaßen ihr Hab und Gut verloren hatten - also auch Bombengeschädigte oder hei-

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