Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
179 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN mögensverluste der Vertriebenen ausgeglichen worden seien. 209 Die Evangelische Kirche Deutschlands stellte in dieser Hinsicht bereits 1965 in der Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ fest, dass „der Personenkreis, dessen Einkommen am Rande des Existenzminimums liegt, bei den Vertriebenen etwa dreimal so hoch sei wie bei den Einheimischen“. Zugleich wurde festgehalten, „dass nur etwa halb so häufig Vertriebene Eigentümer der von ihnen bewohnten Wohnungen“ seien wie Einheimische (18,2% zu 37,2%). „Insofern hat also ein Ausgleich noch nicht stattgefun- den.“ 210 Der Lastenausgleich, so gilt es abschließend festzuhalten, führte weder zu einer Veränderung der Sozialstruktur der Bundesrepublik noch veränderte er die bestehenden Vermögensverhältnisse. Aber er förderte in wirtschaftlicher, sozialer und psychologischer Hin- sicht immerhin die Eingliederung der Vertriebenen und entpuppte sich unter gesamtgesellschaftlicher Perspektive zudem als ein will- kommenes Konjunkturprogramm. 211 Er erleichterte den Geflohe- nen und Vertriebenen – nicht zuletzt inHinblick auf die Schaffung eigenenWohnraums – den Aufbau einer neuen Existenz imWesten. Daher sehen viele Historiker in dem Modell des Lastenausgleichs trotz aller Schwächen und Unzulänglichkeiten grundsätzlich einen zentralen und erfolgreichen Bestandteil der Bemühungen um die materielle Bewältigung der Kriegsfolgen. 212 WOHNUNGSBAU Eines der zentralen Probleme imNachkriegsdeutschland resultierte aus dem Mangel an Wohnraum, der durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen eine immense Verschärfung er- fuhr. 213 Weil die deutsche Bauwirtschaft sich aber in einem desola- ten Zustand befand und nahezu alle für den Wohnungsbau notwendigen Materialien fehlten, dominierten in den Jahren bis zur Währungsreform eindeutig die Wohnraumbewirtschaftung und die Umnutzung vorhandenen Raums zu Wohnzwecken. Hierzu zählten der Ausbau von Dachgeschossen, Souterrains, Gar- tenhäusern, Laubenkolonien, Bunkern oder Baracken. Außerdem wurde neuer Wohnraum durch die Teilung größerer Wohnungen in mehrere kleine Einheiten gewonnen. Die relativ wenigen tat- sächlichenNeubauten gingen nahezu ausschließlich auf private Ini- tiative zurück. So befanden sich von den zwischen Mai 1945 und September 1950 in den Westzonen erstellten Wohngebäuden 89 Prozent im Eigentum von privaten Haushalten und Betrieben, während lediglich 7 Prozent durch die gemeinnützigenWohnungs- unternehmen und 4 Prozent durch Behörden oder öffentlich- rechtliche Körperschaften erbaut worden waren. 214 Nach der Währungsreform änderte sich in dieser Hinsicht Grundlegendes, was nicht zuletzt auf den Schub zurückzuführen war, den die gemeinnützige Wohnungswirtschaft in den Jahren zwischen 1948 und 1956 erlebte. Hierbei erfuhren insbesondere matlose Spätheimkehrer – für diese Verluste entschädigen sollte. 206 Diejenigen, die über erhebliches Vermögen verfügten, zahlten Gel- der - in der Regel etwa den Gegenwert von der Hälfte des Vermö- gens - in einen Ausgleichsfonds, wobei der 21. Juni 1948 - der Tag der Währungsreform - als Stichtag zur Berechnung der Abgabe festgelegt wurde. Die Zahlungen sollten auf dreißig Jahre verteilt in vierteljährlichen Raten erfolgen, um so Eingriffe in die eigentliche Vermögenssubstanz zu vermeiden. Aus dem so gefüllten Ausgleichsfonds wurden denGeschädigten Geldleistungen, Darlehen, Renten, Hausratsentschädigungen oder Wohngelder gewährt. Allerdings mussten dafür die erlittenen Ver- luste möglichst genau aufgelistet werden, was angesichts der zumeist chaotisch verlaufenden Flucht oder Vertreibung kein leichtes Un- terfangen darstellte. In oftmals langwierigen Feststellungsverfahren wurde versucht, auf der Basis von Selbsterklärungen und Zeugen- befragungen sowie mit Hilfe alter Katasterpläne und Amtshilfe von Behörden den Wert des ehemaligen immobilen und mobilen Besitzes festzustellen, der anschließend - entsprechend der Abwer- tung der Währungsreform - ausbezahlt wurde. Bis zumDezember 1968 waren aus diesem Ausgleichsfonds über 70 Milliarden DM, bis 1979 dann schließlich rund 150 Milliarden DM verteilt worden. 207 Der Lastenausgleich diente dazu, die Startchancen der Neu- bürger zu verbessern. Durch ihn, so urteilt der Historiker Erik Franzen, seien „aus bloßen Fürsorgeempfängern rechtlich Gleich- gestellte geworden“, deren Opfer und Verluste nunmehr auch ge- setzlich anerkannt waren. Insofern stellten die Zahlungen eine Entschädigung, keinesfalls aber einen realen Ausgleich für die Ver- luste dar, die die Flüchtlinge und Vertriebenen erfahren hatten. Das zeigte sich zumeist überdeutlich in der Höhe der Summen, bei denen es sich im Vergleich zu den tatsächlichen Verlusten in den Augen der Betroffenen eher um „Kleckerbeträge“ handelte, die zudem oft auch noch in Raten gestückelt wurden. „Für ein ver- lorenes Haus“, so klagte ein vertriebener Landwirt, „kann man nicht mal einen Bauplatz kaufen, und für den Verlust eines Waldes erhält man allenfalls denWert eines Baumes als Entschädigung.“ 208 Insofern war der Lastenausgleich bei aller ihm beizumessenden Bedeutung eher eine materielle Starthilfe als eine tatsächliche Ent- schädigung für den verlorenen Besitz. Während viele Betroffene die Zuwendungen daher eher als „Tropfen auf den heißen Stein“ empfanden, sahen die durch Ausgleichsabgaben belasteten Ein- heimischen darin ganz imGegenteil oftmals eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Begünstigten. Aus dieser unglücklichen Kon- stellation entwickelten sich zahlreiche Mythen, die um den Las- tenausgleich rankten und noch heute ranken. So weist Andreas Kossert auf die Meinung vieler Einheimischer hin, dass die Ver- triebenen zu großzügig entschädigt worden seien. Dabei sei, so stellt er klar, eine gerechte Vermögensumverteilung unterblieben, was er unter anderem damit belegt, dass nach seriösen Schätzungen bis 1979 lediglich 22 Prozent der ohnehin unterbewerteten Ver-
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