Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
18 AUS DEM LEBEN VON FRITZ STÖCKEL erhalten. (…) Schon am Freitag den 11. Mai war die Stromver- sorgung wieder hergestellt. Das Wasserwerk konnte auch wie- der in Betrieb genommen werden. Im Niederdorf mussten noch Schäden an Leitungen beseitigt werden, was dann auch er- folgte. Auch in den Nachbardörfern mussten noch Leitungs- schäden beseitigt werden. (…) Ich wurde in jenen Tagen beauftragt, in dem Nachbarort Gieshübel die elektrische Wasserversorgungsanlage in einem Bauernhof, die gestört war, wieder in Ordnung zu bringen. Sie wurde dringend benötigt, denn auf dem Hof war eine Viehherde untergebracht. Ich machte mich mit etwas Werkzeug am andern Morgen nach neun Uhr mit meinem Fahrrad auf den Weg. Die nächtliche Ausganssperre dauerte bis acht Uhr, deshalb konnte ich nicht früher aufbrechen. Es war das erste Mal, seit dem Einmarsch der Russen, dass ich nach Gieshübel reiste. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Hoffentlich geht alles gut. Es war ein herrlicher Morgen. Alles ruhig. Kein Mensch war auf der Straße. Ich fuhr die Gieshübeler Straße entlang vorbei am Neu- teich, bis an die Stelle, wo der Wald an die Straße grenzte. Dort war die Straße steil, und ich musste absteigen. Als ich gerade abgestiegen war und den Berg hinaufgehen wollte, sah ich einen Russen, der mir mit seinem Fahrrad folgte. Er stieg erst ab, als er bei mir war. Ich erschrak sehr. Wir sahen uns beide an, kein Wort fiel. Er schien etwa zwanzig Jahre alt zu sein, hatte kein Gewehr bei sich, sondern nur einen Revolver und eine Kartenta- sche. Wir gingen mehrere hundert Meter nebeneinander her. Plötzlich machte er eine Handbewegung zu mir hin. Ich verstand, ich sollte stehen bleiben. Hastig nahm er den Revolver aus der Tasche. Ich dachte, das letzte Stündlein habe mir geschlagen. Der Schweiß trat mir auf die Stirn. Revolver hoch, ein Schuss knallte. Der Russe rannte etwa dreißig Meter nach vorne und hob am Waldesrand etwas auf. Triumphierend hielt er einen Ha- sen hoch. Er war ein richtiger Scharfschütze. Er kam wieder auf mich zu und wollte mir tatsächlich den Hasen überreichen. Noch immer etwas ängstlich, wehrte ich das ab und gab ihm zu verstehen, dass ich noch weiter müsse. Er versteckte den Hasen hinter einem Baumstumpf und deckte das Tier mit etwas Laub zu. Dann sagte er mir in gebrochenem Deutsch, ich sollte den Hasen auf dem Rückweg mitnehmen. Mir wurde wieder etwas leichter ums Herz. Wir gingen gemein- sam weiter bis zumWaldende auf der Höhe. Dort stand links am Wege eine Ruhebank vom Riesengebirgsverein. Als er sie sah, legte er das Fahrrad nieder und setzte sich auf die Bank. Er for- derte mich auf, dasselbe zu tun. Wir hatten eine herrliche Sicht zum Iser- und zum Riesengebirge. Er freute sich wie ein kleines Kind über die schöne Aussicht und redete zugleich auf mich ein. Ich entnahm daraus, dass er mir seine Liebe zur Natur mitteilen wollte. Er war wohl ein sehr naturverbundener Mensch. (…) Eines Tages kam ein Lastwagen vorgefahren. Ein Offizier kam in die Werkstatt, erklärte mir in gebrochen Deutsch, meine Drehbank wolle er abholen als Reparation. Ich erschrak. Er- klärte ihm, die Maschine sei doch eine ganz alte, es lohne sich doch nicht, dieselbe mitzunehmen. Er wankte hin und her. Ich bot ihm etwas guten Tabak und Papier, etwas Tabak hatte ich immer bereit. Er nahm es sofort und machte sich eine Zigarette und brannte sie an. Mittlerweile gab er mir zu verstehen, er verzichte auf die Maschine, in einer Fabrik wollte er eine holen. Er rückte ab, ich war froh darüber. Es kamen laufend Russen und auch schon Polen, die hatten allerhand Wünsche. (…) Auch polnische Truppen wurden im Kreis einquartiert. Auf dem Rittergut in Wingendorf war eine Schwadron, ungefähr 10 Mann mit Pferden. Sie führten die Aufsicht und Kontrolle über einen Teil des Kreises. Verhaftungen und Hausdurchsuchungen wurden brutal durchgeführt. Die Russen hatten nur noch kleine Ortskommandanturen mit wenig Soldaten. Ich war außerhalb des Hauses, kam gegen Abend zurück. Da erzählte mir meine Frau, es wären 4 polnische Soldaten da gewesen mit einem Panjewagen. Ich wurde aufgefordert, mich am andern Morgen mit Werkzeug bereitzuhalten und zwar um sechs Uhr in der Frühe. Ich sollte die elektrische Wasserver- sorgungsanlage in Ordnung bringen. Sie hatten schon andere Fachleute aus der Kreisstadt auf das Gut geholt, aber es hatte nicht geklappt. Ich kannte die Anlage, da ich sie mit einer Gör- litzer Firma eingebaut hatte. Meine Frau sagte mir, der Dolmet- scher sei ein komischer Kerl gewesen. Er spräche zwar gut Deutsch, hätte aber gedroht, sie würden mich an die Wand stellen und erschießen, wenn ich am anderen Morgen nicht da sein würde. Ich machte mir eine Kiste mit Werkzeug und etwas Material fertig. Am andern Morgen standen wir um fünf Uhr auf. Wir schliefen wegen der unsicheren Zeit in der Küche auf dem Fußboden auf Matratzen. Von der Küche aus konnte man die Straße bis zur katholischen Kirche einsehen. Während wir früh- stückten, sahen wir an der Kirche bereits ein Gespann stehen. Meine Frau erkannte die Männer von gestern wieder. Wir warteten. Endlich, kurz vor sechs Uhr, kamen sie an. Ich hatte die Türe der Werkstatt geöffnet. Drei Männer kamen he- rein. Während zwei die Kiste auf den Wagen luden, verabschie- dete ich mich schnell von meiner Frau. (…) Die Russen hatten nur noch eine kleine Kommandantur. Es kamen immer mehr Polen mit Familien. Auf dem Bürgermeis- teramt war eine polnische Verwaltung eingezogen. Im Haus Hoffmann - uns gegenüber - war die Miliz einquartiert. Das war eine gefährliche Bande. Was da täglich an unseren Deutschen begangen wurde, ist unbeschreiblich. Es wurden Leute ge- schlagen und erschlagen, ohne einen Grund. Der geringste Verdacht genügte, um in die Hände der Miliz zu kommen. Die Polen besetzten zuerst landwirtschaftliche Anwesen, später auch die anderen Häuser. Die Miliz kam mit den Polen, trieb die Deutschen heraus, plünderte für sich, was sie konnte. Die Polen
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