Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
182 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: PROBLEME DER AUFNAHMEREGIONEN es, die Bautätigkeit durch staatliche Lenkungsmaßnahmen zu un- terstützen und durch Förderprogramme anzukurbeln, wozu der Bundestag 1950 das „ErsteWohnungsbaugesetz“ verabschiedete. 218 Es schrieb verschiedene Unterstützungsmaßnahmen fest: Finan- zierungshilfen, die Durchführung von staatlichen Bauprogrammen, die Übernahme von Bürgschaften und Steuervergünstigungen, Ge- bührenbefreiungen und Gebührenermäßigungen. Zugleich wurden Bund, Länder und Gemeinden verpflichtet, Bauland bereitzustellen - ein arbeits- und kostenintensiver Aufgabenbereich, der vor allem von den Kommunen zu bewältigen war. Sie hatten die Beschaffung und die Erschließung neuer Siedlungsflächen zu übernehmen und die notwendige Infrastruktur bereitzustellen. Aber auch die staat- liche Wohnungspolitik zeichnete sich durch eine starke soziale Komponente aus, weil sozial benachteiligte Gruppen wie kinder- reiche Familien oder Kriegsbeschädigte, insbesondere aber auch Vertriebene und „SBZ-Flüchtlinge“ besonders zu berücksichtigen waren. Die Ziele waren überaus ambitioniert: Um die größte Woh- nungsnot schnellstmöglich zu beseitigen, sollten innerhalb von sechs Jahren 1,8Millionen Sozialwohnungen entstehen, eine Zahl, die 1953 gar auf zwei Millionen erhöht wurde. 219 Noch nie in der Geschichte des deutschen Wohnungsbaus war eine derartige Ak- tivität entfacht worden. Ein solches Tempo erforderte naturgemäß Zugeständnisse bei Größe und Qualität des neuen Wohnraums, weshalb imGesetz eine Typisierung und Rationalisierung desWoh- nungsbaus festgelegt wurde. Das ErsteWohnungsbaugesetz forderte die Schaffung von Normen für Baustoffe und Bauteile sowie die Entwicklung von verbindlichen Typen. Eine rationelle Bauweise wurde damit unter dem Motto „so schlicht wie möglich bzw. ge- setzlich zulässig“ der architektonischen Gestaltung übergeordnet. Als Vorbild der Typenentwicklung diente das ländliche Einfa- milienhaus der Zwischenkriegszeit, so dass sämtliche Anfang der 1950er Jahre entworfenen Musterhäuser die gestalterischen Ele- mente des sogenannten „Heimatschutzstils“ aufwiesen: Einzel- oder Doppelhäuser mit ein- bis zwei Vollgeschossen, steiles Sattel- dach, kleine Sprossenfenster, Holzklappläden und Stallgebäude. „Das ländliche Kleinhaus von 1924, die Siedlerhäuser von 1934 und die Kleinsiedlerstellen der fünfziger Jahre“, so urteilt Thomas Hafner, „gleichen sich fast aufs Haar.“ Eine Aufwertung habe le- diglich die Ausstattung erfahren. So sei die Toilette aus einem Schuppen ins Haus verlegt und Bäder integriert worden. Außerdem habe sich die Wohnfläche der Häuser von 45 auf 60 bis 100 m 2 er- höht. Die Auswahl der Bautypen und deren Umsetzung lässt sich bei- spielhaft an der Planungspraxis des Siedlungswerks „Neue Heimat“ veranschaulichen: Die Bauwilligen einer Siedlung mussten zunächst „im Interesse der Vereinfachung der Arbeit und des raschen Bau- fortschritts und damit der Verbilligung der Häuser“ unter den Mustertypen der Baugesellschaft einen Haustyp auswählen , der dann für alle Siedler gebaut wurde. So fanden die Mustertypen der Siedlungsgesellschaften als verbindliche architektonische Vor- gaben Eingang in den ländlichen Siedlungsbau, weshalb sich die Kleinsiedlerhäuser in der alten Bundesrepublik sehr ähnlich sahen. Die meisten dieser Kleinsiedlungen imHeimatschutzstil entstanden zwischen 1949 und 1958. Als die Umsiedlungsaktionen der Flücht- linge und Vertriebenen dann Ende der 1950er Jahre weitgehend abgeschlossen waren, verschwanden solche ländlichen Haustypen aus den Bauprogrammen und wurden durch das zweigeschossige Einfamilienhaus ersetzt. Trotz aller erzwungenen Bescheidenheit war hinsichtlich der vorgeschriebenen Eigenleistung ein hohes Engagement beim Bau des eigenen Siedlungshäuschens erforderlich. Ein Teil der Siedler ließ sich sogar direkt bei dem vom Bauträger beauftragten Bauun- ternehmer anstellen. Die so geleistete Arbeit wurde anschließend von dessen Rechnung abgezogen und dem Eigenleistungskonto gutgeschrieben. 220 Die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus setzte sich aus drei Hauptquellen zusammen: Eigenkapital, öffentlichen Mitteln und Mitteln des freien Kapitalmarktes. Zu ersterem zählten vor allem Bargeld, Ansparleistungen im Bausparvertrag, ein Bauplatz oder Selbsthilfeleistungen. Hinzu kamen so genannte „unechte Ei- genleistungen“ in Form von Aufbaudarlehen aus dem Lastenaus- gleichsfonds, Mieterdarlehen, Verwandtendarlehen oder Arbeit- geberdarlehen. Der Anteil solcher Eigenkapitalien an den Gesamtherstellungskosten lag imWohnungsbau zwischen 25 und 33 Prozent. Die größtenteils vom Bund und den Ländern verge- benen öffentlichen Mittel machten als zweite Geldquelle einen Anteil von 33 bis 44 Prozent aus, zu denen die Gemeinden nur ei- nen kleinen Teil beisteuerten. Aufgebracht wurden diese Gelder insbesondere aus Steuermitteln. Die restliche Baufinanzierung in einer Größenordnung von 27 bis 35 Prozent mussten die Bauherren auf dem freien Kapitalmarkt sicherstellen. Trotz aller staatlichen und kommunalen Unterstützung teilte das bundesrepublikanische Bekenntnis zumWohneigentum die wohnungssuchende Bevölke- rung daher bereits Anfang der 1950er-Jahre in zwei Gruppen: jene der Besitzenden und die der Besitzlosen. Wer Grund und Boden hatte, konnte das für ein Eigenheim erforderliche Eigenkapital sehr häufig leicht aufbringen, während das all jenen, denen Grund und Boden fehlte, sehr schwer fallen musste. Zu dieser Gruppe zählten natürlich in erster Linie die mittellos und ohne Grundbesitz im Westen ankommenden Flüchtlinge und Vertriebenen. Trotz dieser eher ungünstigen Ausgangsbedingungen errichteten private Bauherren die meisten Nachkriegsbauten. Mit 56,3 Prozent an der Gesamtwohnungsproduktion hatten sie bereits 1953 die gemein- nützigen Wohnungsunternehmen übertroffen und bauten ihren Anteil bis 1956 auf 64,2 Prozent aus. Es wurde bereits mehrfach betont, dass das große Nachkriegs- problem der Wohnraumknappheit mit jenem des Flüchtlingszu- stroms zusammentraf und sich dadurch zu einer noch größeren Herausforderung für die Verantwortlichen und einer wachsenden
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=