Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
19 AUS DEM LEBEN VON FRITZ STÖCKEL Es folgte ein längeres Gespräch mit ihm. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, das ein russischer General so ein offenes Wort mit mir führen würde. Er sagte, wir müssten aus unserer Heimat. Das Gebiet bis zur Neiße käme unter polnische Ver- waltung, würde auch von Polen besiedelt. Deutschland würde in 4 Zonen eingeteilt. Bis an die Elbe unter russischer Besat- zung. Jenseits der Elbe würden eine amerikanische, eine eng- lische und eine französische Zone gebildet. Wir sollten so schnell wie möglich versuchen, über die Neiße zu kommen und mitnehmen, was nur möglich wäre, es wären ja nur 25 km bis zur Neiße. Bevor die große Aussiedlung durch die Polen erfolge. Ich sollte mich mit dem russischen Ortkommandanten in Ver- bindung setzten, etwas Schmuck oder dergleichen bieten, dann würde er uns mit einem Jeep oder Auto über die Neiße bringen. Es wäre zur Zeit noch gut möglich, denn ein Zurück gebe es nicht. Er sagte, sie werden sich wundern, wenn die Polen kom- men und alles besetzen werden. (…) Wir haben gewartet, bis die großen Austreibungen kamen. (…) Die Polen verlangten von mir, eine Fernsprechleitung von verschiedenen Stellen im Ort nach dem Bürgermeisteramt auf- zubauen. Das Fernsprechamt war in der letzten Nacht von der Wehrmacht gesprengt worden. Wir mussten alte Handkurbel- apparate besorgen und einen Vermittlungsschrank. Aus den Bahnwärterhäuschen wurden die Handapparate geholt, auch aus verschiedenen Schießständen. Auch ein Vermittlungs- schrank wurde besorgt. Wir konnten 10 Sprechstellen aufbauen. Ich hatte noch keine Mark Geld auf die ganzen Arbeiten erhal- ten. Ich traute mich nicht, etwas zu verlangen. Ein Schlosser hatte für seine Arbeit sofort etwas verlangt, eine Tracht Prügel wurde ihm verabreicht. Ich musste wieder mal zum Bürger- meisteramt kommen. Dort war ein älterer Pole, der hatte das Sagen. Er fragte, ob ich nicht mal etwas Geld für meine viele Arbeit haben wollte, ich sagte, wenn es möglich wäre, ja. Ich sollte 10 kleine Rechnungen machen so um die 150 Mark, sollte sie bringen, er würde mir dann das Geld geben, was auch er- folgte. Deutsche Bauern, die früher Polen als Arbeiter beschäftigt hatten, mit denen ging man teilweise besonders böse um. Vor allen, wenn sie früher kein gutes Verhältnis hatten. Es war leider so, manche hatten sich an den Leuten schuldig gemacht. Bei der geringsten Sache bestellten sie den Landjäger, der ver- passte dann öfter den Polen eine Tracht Prügel. Bei vielen Bau- ern wurde es jetzt umgekehrt. Der Pole spielte den Besitzer, die Deutschen mussten jetzt als Arbeiter bei ihm arbeiten. Da ging es oft böse zu. Ich kannte Fälle, wo dann bitter Elend herrschte. Ich will einen Fall kurz schildern. Ein großer Hof, ca. 100 Morgen, der Bauer im Krieg, die Frau führte den Betrieb. Ein Pole Mitte 20 und noch andere machten die Arbeit. Der Pole war fleißig, er war der erste Arbeiter im Betrieb. Sie hatte auch wegen Kleinigkeiten den Landjäger zogen dann in die Häuser ein, an der Haustür wurde ein Zettel angebracht, das Haus sei besetzt. Die Deutschen mussten in einen kleinen Raum oder in einem alten Haus irgendwo Unter- kommen suchen. Bei den Hausbesetzungen wurde zum Teil brutal vorgegangen. Ein Bauer H. wurde blutüberströmt zu- sammengeschlagen. In Hemd und Hose wurde er in einer offe- nen Kutsche durch das Dorf gefahren. Er ist nicht mehr gese- hen worden. Auch unsern Doktor Wernike hat man ohne Grund mal so geschlagen. Meine Schwägerin Elfriede, die Frau meines Bruders Erich, war mit ihren 5 Kindern beim Flüchtlingstransport am 25.2.1945 in die Tschechei verschickt worden, in die Nähe von Pilsen. Nach dem Waffenstillstand mussten sie wieder nach Hause. Anfang Juni kamen der Sohn Manfred, 12 Jahre, und ein Mäd- chen, 5 Jahr alt, allein nach Hause. Sie hatten sich durch Betteln nach Hause durchgeschlagen. Die älteste Tochter Anneliese, 14 Jahr alt, kam Tage später mit dem Kleinkind Joachim, sie hatte es auf dem Arm, und dem Mädchen Inge nach Hause ohne Mutter. Der Joachim war so abgemagert, ich konnte mei- nen Daumen und den Zeigefinger um seinen Hals legen und sie berührten sich. So was hatte ich noch nicht gesehen. Er war so abgemagert, er war nur noch Haut und Knochen. Die Mutter der Kinder war auf dem Rückweg krank geworden. Sie soll in einem Krankenhaus bei Budweis untergebracht worden sein und ist dort verstorben. Die Kinder wurden in ihrer Woh- nung wieder untergebracht, wo auch meine Mutter wohnte. Meine Mutter übernahm die Betreuung der Kinder. Es war ein schweres Erbe für die Mutter und die Kinder. Ich habe meinen Beitrag für die Verpflegung beigetragen so gut ich konnte, auch meine Frau kümmerte sich um die Kinder. Es musste täglich etwas zum Essen da sein. Anfang Juni 1945 gegen Abend fuhr ein russischer Jeep mit Stander, einem General und einem Offizier an meinem Hause vor. Ich war in der Küche und sah ihr Kommen. Ich ging zur Werkstatt. Beide kamen vom Hof in die Werkstatt. Der Offi- zier war der Elektroingenieur, der schon mehrere Male bei mir war. Er stellte mir einen General vor. Er brachte sein Anliegen vor, er wünschte von mir 4 Radioröhren für ein Grätz-Rund- funkgerät. Die Röhren sollten als Ersatz dienen. Der General reiste nach Moskau zurück und wollte sie mitnehmen. Wir gin- gen in den Laden, ich holte meinen Röhrenbestand. Die 4 ge- wünschten waren noch dabei, und ich übereichte dieselben dem Offizier. Ich merkte, er freute sich darüber. Er sprach etli- che Worte mit dem General in ihrer Sprache. Der General hatte noch kein Wort gesagt. Er lächelte und fragte mich in gut Deutsch, was sie kosteten. Ich sagte, sie kosten nichts. Er zog die Brieftasche heraus, entnahm einen Schein, er war blau, die Größe etwa eines heutigen 10 Mark Scheins. Es war Besat- zungsgeld im Wert von 500 Mark und gab mir denselben, ich nahm ihn. (…)
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