Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

190 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN Bevor sich der Krieg seinem Ende zuneigt, erlebt die neunjäh- rige Irmgard sehr bewusst die Fluchtbewegung von West nach Ost mit. Seit Ende 1944 hätten sich, so erzählt Frau Coenen, sehr viele Menschen aus dem Rurtal in der Eifel über Jüchen zum Rhein hin bewegt, um so den harten Kämpfen in der Aa- chener und Dürener Gegend zu entkommen. „Die Leute flohen mit Trecks mit Vieh, alten Menschen und Kindern und zogen hier am Markt vorbei in Richtung Rhein.“ Es sei für sie „ein schreckliches Bild“ gewesen, das ihr bis heute noch in „größter unangenehmer Erinnerung“ klar und deutlich vor Augen stehe. „Es starben auch Menschen. Wir haben dann hier am Markt auch Menschen aus dem Rurgebiet gesehen, die entkräftet starben.“ Die Flüchtenden wollen nicht in Jüchen bleiben, son- dern befinden sich auf der „Durchreise“. Am Jüchener Markt ergänzen sie lediglich ihre Wasservorräte. „Der Drang war in Richtung Rhein, weil sie glaubten, rechtsrheinisch wäre dann das Elend beendet. Man glaubte, das Linksrheinische werden die Engländer und Amerikaner noch erobern, und dann ist es aus.“ Hubert Knabben hat als Junge und Nesthäkchen von sechs Geschwistern einen etwas anderen Blick auf die damaligen kriegerischen Ereignisse. „Mich haben immer die Einquartie- rungen von deutschen Soldaten interessiert, die von etwa Sep- tember 1944 bis Februar 1945 in Jüchen und oft auch in unse- rem Haus untergebracht waren.“ Huberts Interesse rührt nicht zuletzt daher, dass seine beiden Brüder Soldaten sind, wobei Bruder Franz an der Ostfront erblindet und zurück nach Jüchen gekommen ist. In Jüchen, so erinnert sich Hubert Knabben ge- nau, hätten Angehörige der „Frundsberger“ und der „Wind- hunde“ gelegen. 232 Diese Eindrücke setzten sich bei ihm fest und lassen ihn bis heute nicht los: „Wenn ich einen deutschen Soldaten sehe, auch in den Filmen, das ist für mich Erlebnis. Das habe ich damals mit den deutschen Soldaten erlebt. Das waren gute Kumpels, das waren tolle Jungens.“ Die Umstände geben dem knapp Zehnjährigen reichlich Gelegenheit, seine freundschaftlichen Kontakte zu den Soldaten zu pflegen. „Wir hatten ja keine Schule mehr.“ Großes Interesse bei den Jüchener Jungen erweckte auch die Flakstellung zwischen Jüchen und Hochneukirch. „Wir Jun- gens gingen dann dahin, saßen auf dieser Vierlings-Flak und waren froh. Es sah in etwa so aus wie ein kleines Karussell.“ Dann habe es plötzlich geheißen: „Tiefflieger kommen!“, und alle Jungen seien so schnell wie möglich zurück nach Jüchen gelaufen. – Mit neun Jahren kann man die Gefahren des Krieges noch als Abenteuer erleben. „Ich war immer draußen“, be- schreibt Hubert Knabben sein Verhalten bei Luftangriffen. So erlebt er auch den bereits erwähnten Absturz eines alliierten Bombers am 22. Dezember 1944 unmittelbar mit. „Ich stand Dem Kriegsende entgegen auf unserem Hof und hörte Maschinengewehrfeuer. Und auf einmal kommt dann dieser Bomber brennend herunter und stürzt dann hier in die Kirchstraße rein. Ich war der erste, der oben an der Ecke bei Bauer Küster stand“, erzählt er weiter. Es sind nun aber nicht mehr die Häuser allein, die brennen: „Da habe ich zum ersten Mal auch einen verbrannten Menschen gesehen. Das hat mich auch geprägt.“ Der Spielplatz der Jü- chener Kinder am alten Ringofen, wo die Flugzeugreste gela- gert werden, verändert sich nachhaltig: „Der roch nach Benzin und Leichen“, ein Geruch, den Hubert Knabben zeitlebens nicht mehr vergessen wird. An „richtige Angst“ erinnert er sich nur anlässlich eines alliierten Bombenangriffs im Herbst 1944, als er einen Bombenteppich auf sich zukommen hört: „Leise, immer lauter, immer lauter, immer lauter. Dann denkt man: ‚So, die nächste ist für Dich bestimmt.‘“ Irmgard hat anders als der gleichaltrige Hubert im Luft- schutzkeller mit permanenter Angst zu kämpfen, obwohl ihr zur Wehrmacht eingezogener Vater Wilhelm während eines Heimaturlaubs einen Teil des stabilen Gewölbekellers zum Luft- schutzraum ausgebaut hat. „Und er hatte uns versichert: ‚Da seid ihr sicher. Geht nicht weg! Bleibt hier in Jüchen. Ich mache euch noch einen Notausgang zur Straße hin.‘“ Die Beteuerun- gen des Vaters hätten ihr bei aller Angst immer auch „eine große Sicherheit“ vermittelt. Familie Krapohl verbringt in den letzten Kriegsmonaten die Nächte stets im mit Betten und Vor- räten ausgestatteten Keller. Aber die Angst lässt die damals Neunjährige nicht los: Immer dann, wenn Bomben gefallen seien, habe sie sich in ihrer Not die Ohren zugehalten. Aber nicht nur die Ereignisse in Jüchen sorgen für große Beunruhigung. Ihre Familie, so erzählt Irmgard Coenen, habe vor allem auch deshalb in steter Sorge gelebt, weil die Großel- tern in Rheydt gewohnt hätte, das extrem bombengefährdet gewesen sei. Weil es keine Telefonverbindung gibt, fährt Irm- gards Mutter nach jedem Angriff mit dem Fahrrad in die be- nachbarte Stadt, um nach ihren Eltern zu sehen. In dieser Zeit bleiben ihre drei kleinen Töchter allein in der Obhut eines 14- jährigen Mädchens, das im Hause Krapohl sein Pflichtjahr ab- solviert. Das empfindet Irmgard als Älteste stets als „ganz heikle Situation“. „Ich hatte wahnsinnige Angst, dass in dieser Zeit wieder Flugzeuge kamen und wir ohne unsere Mutter wa- ren.“ Sie habe daher die letzten Kriegsmonate als „sehr unan- genehm“ und extrem angstbesetzte Zeit erlebt.

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