Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
202 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN Die Einnahme Jüchens durch US-Truppen habe sie, so erzählt Irmgard Coenen, „in bester und schlechtester Erinnerung – kann man beides sagen“. An diesem 28. Februar habe sie mit Mutter und Geschwistern wie so häufig im Keller gesessen. „Wir saßen unten und hörten oben Klopfen auf unserer Haustür. Wir hörten unangenehmes Geschrei von Erwachsenen und Poltern.“ Es habe sich aber niemand im Keller bewegt und sei nach oben gegangen, von wo für sie „unverständliche englische Worte“ gerufen worden seien. Dann endlich habe ihre Mutter gefolgt vom Pflichtjahrmädchen Magdalene und den drei klei- nen Töchtern den Weg nach oben gewagt, wo „fremdartige“ und „verschmutzte“ alliierte Soldaten gestanden hätten. „Be- drohliche Figuren standen in unserer Küche und schrien uns an, dass wir da schnellstens rauskommen müssten.“ Anschlie- ßend werden die fünf auf den Markt hinaus getrieben – „ja, das war getrieben“. Die Situation ist für die neunjährige Irmgard völlig unbegreif- lich. „Das war neu, wie irgendetwas im Leben nur neu sein kann.“ Sie und ihre Geschwister sind völlig unvorbereitet. Mir ihr, so beteuert Irmgard Coenen, sei zuvor mit niemandem über das gesprochen worden, was das Kriegsende bedeuten könne. Die Lage wird für die Familie noch durch eine Vergesslichkeit der Mutter verschärft, die es in der Aufregung versäumt hat, eine im Keller als Staubschutz verwendete Hakenkreuzfahne vor dem Eintreffen der US-Truppen zu entfernen. „Ganz plötzlich sagte meine Mutter zu mir: ‚Wir haben die Fahne vergessen! Die Hakenkreuzfahne hängt im Keller.‘“ Die aufsteigende Panik der Mutter überträgt sich umgehend auf Irmgard, und die Fa- milie fürchtet nun, seitens der Amerikaner als „richtige Nazis“ identifiziert zu werden, die sie ja gerade nicht gewesen sind. Diese große Angst bleibt während der nun folgenden Stunden auf dem Marktplatz stets präsent. Dort stehen bei ihrem Erscheinen schon sehr viele Jüchener. „Ich als Kind hatte sofort das Gefühl: Wir werden jetzt alle er- schossen“, erinnert sich Irmgard Coenen bis heute mit ungutem Gefühl. Rund um den Markt stehen zahlreiche Panzer, deren Ka- nonen auf die auf dem Platz versammelten Menschen gerichtet sind. „Für mich war das – bis heute – äußerst bedrohlich“, nicht zuletzt, weil diese Erlebnisse später nie „psychologisch aufge- arbeitet“ werden. Erschwerend kommt hinzu, dass Irmgards Mut- ter nicht in der Lage ist, ihren Töchtern tröstend beizustehen. Sie sei derartig aufgeregt und besorgt gewesen, dass sie keine Zeit für beruhigende Worte gefunden habe. „Da habe ich meine Mutter erlebt: Die hat die gleiche Angst wie ich, und das war für mich noch eine weitere Schwierigkeit, das zu verarbeiten.“ Aber auch alle anderen Menschen auf dem Markt, so erin- nert sich Irmgard Coenen an den 28. Februar 1945 zurück, hät- ten einen „Eindruck der Unsicherheit“ vermittelt. „Was kommt auf uns zu? Was wird mit uns geschehen? Werden wir jetzt mal kurz erschossen?“ Das Stehen und Warten auf dem Markt zieht sich über Stunden hin. Besonders in Erinnerung bleiben ihr auch die in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten, die mit dauerhaft erhobenen Händen ausharren müssen. Auch das sei ein Bild gewesen, das sich ihr wie anderen Kindern dauerhaft „eingebrannt“ und absolut nichts mit einem guten Gefühl von Befreiung zu tun gehabt habe. Dieser Tag, an dem sie erstmals „dunkelhäutige Menschen“ sieht, ist für die knapp Zehnjährige von Todesangst bestimmt. „Das war das Schreck- lichste, was ich im Leben bisher erlebt habe. Den ganzen Tag über ist bei mir die Angst geblieben: Heute Abend sind alle Menschen hier auf dem Markt tot!“ Auch Hubert Knabben erlebt die Besetzung Jüchens haut- nah mit. Bereits am Vortag, den 27. Februar, so erinnert er sich, seien einige Geschosse im Ort eingeschlagen, weshalb die Familie umgehend den Luftschutzkeller aufgesucht habe, während die einquartierten Soldaten Jüchen „fluchtartig“ ver- lassen hätten. „Morgens ging es dann los.“ Zunächst nimmt man Panzerbeschuss und Maschinengewehrfeuer wahr, was für Hubert allerdings „nichts Neues“ mehr ist. Nun werden al- lerdings neben einigen Privathäusern auch die Schule und die Kirche durch Panzergeschosse in Mitleidenschaft gezogen. „Dann wurde es auf einmal still. Und dann hörte man auf einmal Englisch-Sprechen auf der Straße.“ Darauf habe sein Vater gerufen „Do kumme se!“, sei die Kellertreppe hochge- laufen und habe den bereits im Hausflur stehenden US-Sol- DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN AUS DER SICHT VON ZEITZEUGEN - TEIL 2 Der Einmarsch der Amerikaner Irmgard mit ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, um 1938/39
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