Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

203 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN daten entgegengerufen „Nix Soldat, nix Soldat!“ Alle im Keller Versammelten müssen das Haus verlassen und sich mit an- deren Bewohnern der Steinstraße auf einem kleinen Platz in der Nähe von Haus Katz aufstellen. „Meine Schwestern hatten sehr große Angst. ‚Die erschießen uns, die Amerikaner!‘“ Ir- gendwann habe es dann geheißen: „Alle Bürger auf den Markt- platz!“ Dort habe man dann stehen und warten müssen. „Panzer an Panzer und Kanone an Kanone“ seien aus Richtung Gar- zweiler und Priesterath durch Jüchen gezogen – „pausenlos den ganzen Tag“. Hubert steht mit seinem Vater direkt an der Bordsteinkante, um das Geschehen genau beobachten zu kön- nen. Dabei hört er, wie ein älterer Mann angesichts des gewal- tigen Truppenaufmarschs ungläubig fragt: „Un jejen su jet well Deutschland dä Kräch jewenne?“ Bis vier Uhr nachmittags dau- ert das Spektakel. Erst danach dürfen die Jüchener wieder nach Hause gehen. Im Hause Knabben gibt es nun neue Einquartierungen. US- Soldaten, so erinnert sich Hubert Knabben, seien an den Häu- sern entlanggegangen und hätten außen mit Kreide die Zahl der in dem jeweiligen Haus unterzubringenden Soldaten notiert. Für sein Elternhaus habe die Anzahl zunächst fünf, dann zehn und schließlich 20 betragen. Der Grund sei vielleicht das im Wohnzimmer stehende Klavier gewesen, was für die Kampf- truppe eine ersehnte Abwechslung dargestellt habe. Die Sol- daten „tischen auf“ und feiern und der zehnjährige Hubert kann das erste Mal nach Jahren wieder Schokolade essen. „Das war für mich was ganz Besonderes.“ – Am nächsten Tag zieht die Kampftruppe weiter und wird in Jüchen durch Besatzungs- truppen ersetzt. Um die Besatzer unterzubringen, müssen sämtliche Bewoh- ner der oberen Steinstraße ihre Häuser verlassen und sich an- derweitige Unterkunft besorgen. Familie Knabben kann im Haus verbleiben und nimmt in dieser ersten Phase der Besatzung Nachbarn und Freunde auf. „Wir lebten dann da, so gut es eben ging.“ Das sei manchmal sogar angenehm gewesen, entsinnt sich Hubert Knabben. Seine drei älteren Schwestern bekom- men häufig Besuch von Freundinnen. „Wir saßen dann abends zusammen. Da wurde gesungen. Das war also eigentlich eine schöne Zeit.“ Als bald die meisten Besatzungstruppen wieder abziehen, beherbergen die Knabbens im ersten Stock ihres Hauses noch für etwa ein halbes Jahr eine Rote Kreuz-Einheit der Amerikaner. „Wir waren geduldet.“ Als Familie Krapohl am Nachmittag des 28. Februar 1945 wieder nach Hause kommt, stellt sie erleichtert fest, dass in ih- rem Haus entgegen aller Befürchtungen „überhaupt nichts pas- siert“ ist. „Die Fahne hing noch unten. Die hat meine Mutter dann sehr schnell einkassiert“, um für ihre Töchter daraus Schürzen zu nähen – eine damals geläufige Form der Entnazi- fizierung! Auch die Krapohls müssen in den ersten Tagen nach der Besetzung Zimmer räumen, um US-Soldaten unterzubrin- gen. Das nimmt Irmgard aber nicht als große Belastung wahr, sondern ist einfach nur froh, dass die Luftangriffe und Bom- benabwürfe ihr endgültiges Ende gefunden haben. Es habe, so erinnert sie sich, das Gefühl dominiert: „Endlich kann ich wieder oben in meinem Bett schlafen!“ Dieses „Stück Befrei- ung“ habe sie allerdings nicht auf die Anwesenheit der Besatzer zurückgeführt, sondern allein darauf, dass der Krieg endlich zu Ende gewesen sei. „Ich war nur froh, dass keine Flugzeuge mehr kamen, dass meine Mutter nicht mehr ständig mit dem Fahrrad nach Rheydt fuhr und nach ihren Eltern sah.“ Als besonders bedrückend empfindet es Irmgard, dass seit der zweiten Jahreshälfte 1944 jegliche Nachricht von ihrem Vater von der Ostfront ausgeblieben ist – ein Schicksal, das die Krapohls mit vielen anderen Jüchenern teilen. Als dann Transporte mit deutschen Soldaten – wahrscheinlich auf dem Weg ins nahegelegene Kriegsgefangenenlager Wickrathberg – durch Jüchen kommen, hofft Irmgard vergeblich darauf, dass ihr Vater sich unter ihnen befindet. „Urplötzlich“ steht er dann aber bereits im Juni 1945 vor der Tür. Allerdings erzählt Wilhelm Krapohl dann im Familienkreis zeitlebens nichts über seine Kriegserlebnisse. Immerhin erfährt Irmgard später, dass er sich offenbar mit dem letzten Schiff, das Russland über die Ostsee verließ, nach Westen absetzen konnte. Dort gerät er dann für kurze Zeit in englische Gefangenschaft, wo er sich auf Nach- frage als Landarbeiter ausgibt und daher schnell entlassen wird. Erst damit beginnt für die Familie die Nachkriegszeit, in die man nach Rückkehr des Ehemanns und Vaters halbwegs optimistisch starten kann. Hubert Knabben mit Eltern und seinen drei Schwestern vor dem Wohnhaus in der Steinstraße, um 1944/45

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