Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
206 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 EVAKUIERTE UND DISPLACED PERSONS An anderer Stelle war bereits verschiedentlich davon die Rede, dass sich bei Kriegsende eine ungeheuer große Zahl vonMenschen nicht an ihren angestammten Wohnsitzen aufhielt, sondern „unterwegs“ war. Hierzu beispielhaft einige Zahlen aus dem damaligen Amt Hochneukirch, die veranschaulichen, wie weitreichend die erzwun- gene Mobilität zu jener Zeit war und welche Auswirkungen sie auf die Organisation des alltäglichen Lebens habenmusste. Der sich aus den Orten Hochneukirch, Holz, Otzenrath und Spenrath zusam- mensetzende Amtsbezirk hatte bei der letzten Zählung vor Kriegs- ende im Jahr 1943 insgesamt 5.313 Einwohner beherbergt, deren Zahl dann bis zumKriegsende auf den niedrigsten jemals erreichten Wert zurückging und auch am5. Juni 1945 erst wieder 2.807 betrug. Alle anderen, so wurde mitgeteilt, befänden sich „auf der Flucht“. Am Jahresende waren dann bereits wieder 4.849 Personen registriert, unter ihnen auch schon „einige Flüchtlinge und Vertriebene“. 239 Tatsächlich war die Lage im Frühjahr und Sommer 1945 mehr als unübersichtlich. Viele Orte imGrevenbroicher Kreisgebiet wa- ren während und unmittelbar nach dem Einmarsch der alliierten Truppen noch voll mit jenen Menschen, die sich zuvor aus ihren grenznahen Heimatorten auf den Weg gemacht hatten, um den Rhein Richtung Osten zu überqueren. Sie galt es, nachdem sie von den US-Truppen sozusagen „überholt“ worden waren, zunächst zu versorgen und bei ihrer Rückkehr in die angestammten Wohn- orte zu unterstützen. Bereits am 24. März 1945, also rund sechs Wochen vor dem offiziellen Kriegsende, leitete Landrat Gilles in dieser Angelegenheit „wichtige Anordnungen der Militärverwal- tung“ an die Kommunalverwaltungen weiter, die am 26. März auch in Jüchen eintrafen. Das Papier beinhaltete die Erlaubnis, dass die sich im Kreisgebiet aufhaltenden Flüchtlingen aus den deutschen Westgebieten, das hieß insbesondere aus dem Heins- berger und Geilenkirchener Raum, „sofort in ihre Heimat zurück- zukehren“ durften – allerdings ohne die Hauptverkehrswege zu benutzen. 240 Der Umgang mit dieser Gruppe der zeitweise Heimatlosen ge- staltete sich vergleichsweise einfach, denn es war deren eigenes Be- streben, möglichst schnell auf ihre Höfe, in ihre Häuser und Woh- nungen zurückzukehren. Anders verhielt es sich hingegenmit jenen Menschen, die angesichts der zunehmenden Luftangriffe und der damit einhergehenden umfassenden Zerstörungen seit 1943 aus den umliegenden Großstädten in die ländlichen Gemeinden eva- kuiert worden waren, wo sie sich seitdem dauerhaft aufhielten. Sie machten aufgrund von Zuzugssperren sowie fehlendenUnterkunfts- undArbeitsmöglichkeiten zunächst keinerlei Anstalten, denDörfern wieder den Rücken zu kehren, die sich andererseits durch die Rück- kehr ehemaliger Soldaten und nach Osten evakuierter Mütter und Kinder zusehends füllten. Das führte schnell zu unerquicklichen Situationen, die erhebliches Konfliktpotenzial in sich bargen. So heißt es beispielsweise aus demHochneukirch der Zeit von Kriegs- ende und „Zusammenbruch“: „Die vielen Evakuierten kamen zurück und fanden kaumnoch ihr Hausgerät und dieMöbeln vor. Teilweise waren sogar ihre Wohnungen von anderen besetzt. 241 Während eine solche Feststellung zu dieser Zeit zumeist auf Evakuierte aus bombengeschädigten Großstadtregionen zutraf, die mit zurückkehrenden Einheimischen um Wohnungen und Res- Wartende Menschen am Jüchener Bahnhof, März 1945
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