Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

209 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 ernhöfe, „bei denen das Vieh gestohlen oder abgeschlachtet wurde und ein Menschenleben zu beklagen war“, blieben die Jüchener nicht verschont. Immerhin aber veranlassten diese Übergriffe den verantwortlichen US-Kommandanten am 29. Mai 1945 dazu, das Abholzen sämtlicher Hecken anzuordnen, um den verschie- denen Banden Sichtschutz und Schlupfwinkel zu nehmen. Die aus dem Lagerbetrieb erwachsenden Herausforderungen waren insbesondere für die Kommunalverwaltung erheblich. Am 5. Juni 1945 skizzierte der Jüchener Amtsbürgermeister dem Landrat die „finanzielle Belastung durch das Ausländerlager“, das zu diesem Zeitpunkt mit 1.000 bis 1.100 Personen belegt war. Durch deren Versorgung „mit Lebensmitteln und sonstigen Bedürfnissen jeder Art“ sei der Haushalt des Amtsbezirks über jede Grenze hinaus belastet. Dabei trugen zwischenzeitlich längst auch die umliegenden Orte zum Unterhalt des Lagers bei: „Die Nachbargemeinden Bedburdyck, Garzweiler und Hochneukirch wurden bereits mit herangezogen, die erforderlichen Mengen Kartoffeln und Schlachtvieh aufzubringen.“ Der Amtsbürger- meister forderte weitere Abhilfe: „Ein gleicher Weg könnte auch in finanzieller Hinsicht beschritten werden. Ich bitte deshalb zu erwägen, dass der Kreis oder einzelne, nicht durch Ausländerläger belastete Gemeinden aus demAufkommen an Reichssteuern dem Amt Jüchen einen Betriebsmittelvorschuss von je 10.000 bis 20.000 Reichsmark zu gewähren haben. Ich bitte um beschleu- nigte Regelung, soll nicht die Liquidität des hiesigen Amtes in- frage gestellt sein.“ 249 Die Lage in Jüchen blieb weiterhin überaus angespannt. Schon drei Wochen später wandte sich der Amtsdirektor am 25. Juni er- neut hilfesuchend an die Kreisverwaltung und wies darauf hin, dass die im Ort untergebrachten DPs dessen ohnehin bedrängte Lage in einer Art Dreiklang der Not weiter eskalieren ließen: „Das Schmerzenskind des Amtsbezirks ist nach wie vor das Ausländer- Lager, das die Ernährungsbasis, die öffentliche Sicherheit und die Wohnungswirtschaft erheblich beeinträchtigt.“ Dabei kollidierten die Interessen der nunmehr bereits 1.400 in 40 beschlagnahmten Häusern untergebrachten Ausländer immer stärker mit jenen der aus demRechtsrheinischen zurückströmenden Evakuierten. Nicht nur den zuvor in der Kölner Straße Wohnenden blieb der Zutritt zu ihrenWohnungen versperrt, sondern nach Angaben des Amts- direktors waren auch auf einer Seite von Friedhofstraße undNeußer Straße Häuser von Polen bewohnt, weshalb es allen Einheimischen verboten war, den linken Gehweg auch nur zu betreten. 250 Schmerzhafter dürfte es für die 5.430 im September 1945 ge- zählten Einwohner des Amtsbezirks gewesen sein, dass sie noch immer 1.230 DPs mitversorgen mussten. 251 Dabei standen ihnen die Nachbargemeinden weiterhin gezwungenermaßen zur Seite, denn dort trafen auf Befehl der Militärregierung immer neue An- forderungen der Kreisverwaltung ein, mit denen um Abgabe von Gegenständen für die DP-Lager ersucht wurde. Beispiele hierfür liegen aus Bedburdyck vor. Obwohl Landrat Gilka versicherte, er habe die Forderungen an die Kommunen so verteilt, dass deren je- weiligen „Kriegsschäden und die bisherige Inanspruchnahme der Ämter durch Polen- und Gefangenenlager berücksichtigt“ würden, forderte er aus Bedburdyck am 23. Juli zur Ablieferung binnen einer Woche folgende Gegenstände an: 1 Radio 1 Lautsprecher für Übertragungen in einen anderen Raum 3 Besen 1 Nähmaschine 5 elektrische Birnen 5 Matratzen 2 Bettstellen in Holz oder Eisen 1 Waschbecken 1 Waschmaschine 1 Bügeleisen 1 Suppenschöpflöffel 1 Waschbrett Rattengift (unbeschränkt) Kaum hatte man dort die Gegenstände mühsam zusammenge- tragen, traf am 6. August bereits das nächste Schreiben ein. Nun- mehr sollten ein weiteres Radio, ein Grammphon mit möglichst vielen Schallplatten sowie eineMatratze geliefert werden. Es dauerte mehr als einen Monat, bis die offenbar überforderte und wohl auch erboste Gemeindeverwaltung am 10. September 1945 auf das Schreiben aus Grevenbroich reagierte. „Durch die starke In- anspruchnahme der Gemeinde durch das Polenlager in Jüchen so- wie durch Diebstahl usw.“, so wurde nun mitgeteilt, sei es „nicht möglich, die erforderlichen Sachen zur Verfügung zu stellen“. Ra- dioapparate seien „kaum vorhanden“ und Grammophone „durch die Kriegsereignisse beschädigt bzw. abhandengekommen“. Mat- ratzen seien in einer Landgemeinde überhaupt nicht verfügbar. Bereits zwei Tage später folgte die Aufforderung, für DP-Lager Rundfunkgeräte abzuliefern, woraufhin man aus Bedburdyck mit- teilte, es sei kein einziges gebrauchsfähiges Gerät vorhanden. – In- wieweit diese rundweg negativen Bescheide den Tatsachen ent- sprachen, muss allerdings dahingestellt bleiben. Es dauerte keine zwei Wochen, bis am 22. September 1945 vom Landratsamt die nächste Abgabeaufforderung eintraf. Nun- mehr waren den DP-Lagern auf Anordnung der Militärregierung seitens des Kreises bis zum 3. Oktober 4.000 Spulen Nähgarn und 1.000 Dosen Streichhölzer zur Verfügung zu stellen, woran Bedburdyck sich mit 150 Spulen und 30 Schachteln beteiligen sollte. Trotz aller Bemühungen waren jedoch lediglich 25 Schach- teln Streichhölzer aufzutreiben. „Es war dies der letzte Bestand, der in den Geschäften der Gemeinde vorhanden war.“ Nähgarn hingegen sei weder in der Gemeinde noch bei den in dieser Frage kontaktierten Spezialfirmen im benachbarten Mönchengladbach erhältlich. 252

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