Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

211 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 richtet die Gemeindechronik, sei nur „von kurzer Dauer“ gewesen und schon nach einigen Tagen einer großen Enttäuschung gewi- chen, als „Südamerikaner die Polen ablösten“. Dabei habe sich schnell herausgestellt, dass die neuen Lagerinsassen „in ihren For- derungen noch anspruchsvoller“ gewesen seien. Außerdemmussten einige Einheimische umgehend ihre zuvor wieder übernommenen Wohnungen erneut räumen oder dort entnommene Möbel zu- rückgeben. Sollten sie diesen Forderungen nicht nachkommen, so die klare Drohung, würden sie mit Hilfe der britischen Mili- tärregierung, die die US-Besatzungsmacht im Juni 1945 abgelöst hatte, durchgesetzt. Die Zahl der im Lager untergebrachten Süd- amerikaner betrug am 21. November 1945 immerhin 900, am 3. Mai 1946 sogar 930. In kurzen Abständen kamen auf die Jüchener Verwaltung immer neue Anweisungen und Aufgaben zu: Sämtliche von den Polen in einem zumeist äußerst schlechten Zustand verlassenenHäuser wa- ren innerhalb kürzester Zeit instand zu setzen. Das aber war prak- tisch unmöglich, denn die Anforderung an Handwerkern und Baumaterialien, Fensterglas, Öfen, Klosettanlagen und Badein- richtungen blieben weiterhin unerfüllbar, weil die Gegenstände selbst in den benachbarten Städten kaum aufzutreiben waren, während die eingeräumte Frist zur Reparatur oft nur wenige Stun- den betrug. In Jüchen dürfte man aufgeatmet haben, als es Mitte März 1946 hieß, dass das „Camp Latino Amerikano“ in näherer Zukunft auf- gelöst würde. 253 Doch wie bereits im Oktober des Vorjahres war die damit verknüpfte Hoffnung nur von sehr kurzer Dauer. Nach- dem die ersten Jüchener auch dieses Mal wieder in ihre Häuser zurückgekehrt waren, wurde „nach einigen Tagen“ die neuerliche Räumung angeordnet, denn kaum hatten die Südamerikaner den Ort endgültig verlassen, trafen am 1. Juni 1946 erneut rund 1.100 Polen ein. Wieder sah sich die Kommunalverwaltung mit kaum lösbaren Versorgungsaufgaben konfrontiert, von denen einige we- nige schriftlich überliefert sind: Für Schuhe wurde bei der Wick- rather Lederfabrik Leder für 4.485 RM bezogen und zur Versor- gung der Lagerinsassen mit Bekleidung lieferte die Otzenrather Firma Dürselen schon eine Woche nach deren Ankunft 60 Ballen Herren-Anzugsstoffe im Werte von 11.100 RM. Angesichts der Belastungen durch das DP-Lager war Jüchen in dieser Zeit im- merhin davon befreit, zusätzlich noch Kontingente an „Ostflücht- lingen“ aufzunehmen, die zwischenzeitlich in immer größerer Zahl am Niederrhein eintrafen. Es dauerte schließlich bis zum 23. Januar 1947, ehe das „Po- lenlager“ endgültig aufgelöst wurde. Die erste Bestandaufnahme fiel desillusionierend aus: „Waren nach dem ersten Abzug der Polen die verlassenen Häuser in einem sehr schlechten Zustand, so sah es jetzt noch schlimmer aus. Mobiliar und Hausgerät waren zum größten Teil von den Polen zertrümmert bzw. verkauft worden. Türen und die restlichenMöbel waren zu Koffern und Kisten um- gearbeitet worden.“ Die Gemeindeverwaltung informierte den Kreis über diese Zustände und forderte, den Eigentümern umge- hend ein nunmehr verbindliches und dauerhaftes Wohnrecht ein- zuräumen, „damit die Häuser unter deren Aufsicht bewohnt und instandgesetzt werden können“. Ansonsten sei es kaum zu vermei- den, „dass ein Teil der fraglichen Häuser in Kürze unbewohnbar“ sein werde, angesichts der anhaltenden und aufgrund des Flücht- lingszuzugs schnell eskalierendenWohnungsnot ein sicherlich wir- kungsvolles Szenario. Der Forderung wurde offenbar umgehend nachgekommen, so dass in dem entsprechenden Passus der Ge- meindechronik die Erleichterung deutlich ablesbar ist: „Wir kön- nen uns denken, mit welcher Freude dieser Tag begrüßt wurde. Hatte man bisher doch auf engem Raum in einer unbesetzten Straße die Hilfsbereitschaft von Verwandten oder Bekannten in Anspruch nehmen müssen. Da ging es nun an ein Säubern und Putzen, und es war erfreulich zu sehen, wie sowohl bei diesen Ar- beiten als auch beimAusbessern derWohnung und beimTransport der geretteten Möbel einer dem anderen behilflich war. Zwar fiel ein schwererer Wermutstropfen in den Freudenkelch, wenn sie sa- hen, was alles nun im Hause fehlte und wie schwer es sein würde, es neu zu erlangen.“ 254 Die endgültige Auflösung des DP-Lagers gab den Jüchenern nach fast zwei Jahren ein kleines Stück Normalität zurück. 255 Das traf natürlich in erster Linie für jene zu, die in diesem Zeitraum auf ihr Haus oder ihre Wohnung hatten verzichten und bei Ver- wanden oder Freunden unterkommen müssen. 256 Es entfiel nun auch der Druck auf Verwaltung und Bevölkerung, immer neue Forderungen nach Lebensmitteln, Hausbrand und Gebrauchsge- genständen erfüllen zumüssen, ohne hierfür irgendeinen Ausgleich zu erhalten. Auch Überfälle und unfreundliche Zusammenstöße zwischen Polen und Deutschen gehörten nun weitgehend der Ver- gangenheit an. Aber auch der Alltag der Ortsbevölkerung konnte nun wieder stärker in altvertraute Bahnen einmünden. So wird über die Nachkriegsgeschichte des Turnvereins Jüchen berichtet, dass er erst im Spätherbst 1945 habe neu entstehen können. „Jü- chen war durch die zwangsmäßige Errichtung eines Polenlagers in schwere Bedrängnis geraten, was sich auch auf das Vereinsleben nachhaltig auswirkte. Sämtliche Säle waren von Polen oder Besat- zungstruppen belegt. Unsere Turngeräte mussten zunächst wieder einmal auf Umwegen aus ihren ‚Stammquartieren‘ befreit werden. Bis zumFreiwerden des ‚RheinischenHofes‘ wurde der Turnbetrieb im Saal der Firma Schwarz & Klein ausgeübt.“ 257

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