Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
22 AUS DEM LEBEN VON FRITZ STÖCKEL Ich war bei der Antwort aufgestanden und hatte mich hinter den Stuhl gestellt. Ich wollte gehen, wurde aber von Sikora aufgefordert, mich wieder zu setzen. Sie sprachen polnisch untereinander. Nach einer Weile sagte Sikora, sie billigten mein Verhalten. Frau Sikora brachte jedem - auch mir - einen Teller mit Brot und ein Stück Dauerwurst sowie ein Glas Schnaps. Wir verspeisten gemeinsam die Vesper. (…) Auf Umwegen hatten wir die Nachricht erhalten, dass mein Bruder Erich, der Vater von den 5 Kindern, deren Mutter in der Tschechei auf dem Rückmarsch verstorben war, in Greven- broich im Westen war. Es war an der Zeit, die Kinder zum Vater ausreisen zu lassen. In Lauban war das Rote Kreuz bemüht, alte gebrechliche Leute und Kinder in Zusammenarbeit mit der englischen Übernahmekommission nach dem Westen zu brin- gen. Nach Erkundigen beim Roten Kreuz war nur noch die Möglichkeit für eine beschränkte Zahl möglich. Wer sollte die Kinder nach demWesten zum Vater bringen? Eine erwachsene Person musste dabei sein. Wir entschlossen uns, dass meine Tochter Ruth, 19 Jahre alt, die Kinder zum Vater bringen sollte. Meine Frau und ich trafen alle Vorbereitungen für die Reise. Jedes Kind musste etwas an Kleidung zusammengepackt be- kommen. Auch Verpflegung für etliche Tage musste beschafft werden. Es war nicht wie zu normalen Zeiten, dass man alles haben konnte. (…) Wir hatten die Gewissheit, dass die Kinder mit Ruth nun zum Vater unterwegs waren. Wir waren froh, als wir die Nach- richt von ihnen erhielten, dass sie gut angekommen waren. Meine Mutter kam nun mit dem Einverständnis des Polen mit zu uns, Ruth war ja nicht mehr da. Meine Frau arbeitete zeit- weise in der Nachbarschaft bei einem Polen. Die Beschaffung von Lebensmittel wie Fleisch und Fett war für uns Deutsche immer schwieriger. (…) Eines Tages war es soweit, wahrscheinlich sollte die Aus- weisung am 5.7.1946 erfolgen. Sonntags traf ich mich öfter auf dem Friedhof, er war ja ca. 500 Meter vom Dorf am Wald, mit meinen Freund Herrmann und Freunden aus Klein-Stöckigt, sie wollten immer was Neues wissen, sie erfuhren sonst nichts. Da ich nun von der Austreibung wusste, erzählte ich ihnen diese Neuigkeit. Sie konnte es nicht fassen, sie waren der Mei- nung, die Ernte steht vor der Tür, wer soll die Arbeit ohne uns machen. (…) Meine Nachricht vom Sonntag war richtig, [die Austreibung] erfolgte am 5.7.1946. Die Leute wurden größtenteils mit Fuhr- werken zur Bahn gebracht und weiter transportiert. Alle spä- teren Transporte mussten sich auf den Sportplatz begeben. Dort wurden sie von den Polen kontrolliert, sie wurden ausge- plündert, zum Teil ihrer letzten Habseligkeiten beraubt. Es dauerte eine längere Zeit nach dieser ersten Austreibung, bis wieder Ruhe unter den Deutschen, die noch da waren, ein- trat. (…) Unsere evangelische Kirche wurde umgeändert zur katholischen Kirche, mein Mitarbeiter und ich mussten Leuchten und das Ewige Licht von einer Kirche zur andern bringen und einbauen. Was da auch alles an wertvollen Sachen verloren ging, es tat einem weh, aber man musste schweigen. (…) Ich beschäftigte mich jetzt abends mit unserer Austreibung, die konnte täglich erfolgen. Machte eine genaue Aufstellung über alle Dinge, die wir zum weiteren Leben in einer neuen Hei- mat - am Anfang ohne fremde Hilfe - unbedingt nötig hatten. Mehrere Male habe ich Änderungen vorgenommen. Wir mach- ten aus zwei starken Leinensäcken Rucksäcke, die Tragriemen wurden aus Leinenhandtüchern gemacht. Ein Rucksack wurde für Siegfried fertiggemacht, er musste auch seine Schultasche tragen. Mutter konnten wir nicht viel aufbürden, eine Tasche zum Umhängen, eine aufgerollte Decke zum Tragen auf dem Rücken. In den Leinensäcken wurde alles verstaut, die Säcke gewogen. Wir trugen die Säcke, angefangen mit einer Viertel- stunde. Jeden Abend steigerten wir die Zeit um 10 bis 15 Minu- ten. Wir wollten wissen, was wir tragen konnten. Vor allem, ob man mehrere Stunden in der Lage wäre, die Last zu tragen. Es wurde umgepackt und zugepackt. Außen an den Säcken hatte ich etliche Karabinerhaken angenäht, da konnte man eine Kanne oder desgleichen anhängen. Wir hatten noch einen kleinen Rei- sekorb aus Rohrgeflecht, den wollten wir unbedingt mitnehmen. An den Ecken waren vier starke Rundhölzer, die gaben dem Korb die Festigkeit. Ich bohrte die Hölzer auf, fertigte Blechhül- sen an, die wurden in die ausgebohrten Hölzer eingesetzt, damit wieder die Festigkeit gegeben war. In die Hülsen verstaute ich die Sparkassenbücher, etwas Geld und etliche Papiere. Die Hül- sen wurden wieder mit Holzstöpsel gut verschlossen, es war nichts sichtbar. Nach Wochen war alles fertig. Trainiert haben wir laufend, also das Rucksacktragen. Wir konnten die Sachen leicht verstecken, in der Dachschräge im Zimmer. Die Sachen waren immer griffbereit. Den Korb mussten meine Frau und ich tragen. Ich hatte vorsorglich zwei kleine Achsen mit kleinen Rä- dern angefertigt. Die konnten mit wenigen Handgriffen unter dem Korb befestigt werden, es wurde dann ein kleiner Wagen. Aus Alu-Blech hatte ich noch zwei Schlittenkufen gemacht, falls Schnee war, die konnte man auch mit wenigen Handgriffen be- festigen. Ich hatte so gut ich konnte vorgesorgt, hoffte, dass alles gut gehen würde. Wir warteten nun auf die Dinge die kom- men würden, es war eine spannende Zeit. (…) Am 10.11.1946 war wieder eine Austreibung von mehreren hundert Deutschen. Mein letzter Mitarbeiter Heller war auch dabei. Früh um 8 Uhr war wieder Sammeln auf dem Sportplatz. Hier erwartete sie die große Überraschung. Polnische Miliz und auch Polen in Zivil nahmen den Leuten den größten Teil ihrer Habe weg, selbst Lebensmittel. Ich habe gesehen, wie zwei Jungen im Alter von 10 bis 12 Jahren, sie hatten einen kleinen Eimer mit Kartoffelsalat, er wurde ihnen abgenommen, ausge- schüttet und zertreten. Ich war am Rande des Sportplatzes
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