Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

220 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 Politisches Leben und Parteien Während eine halbwegs funktionierende Kommunalverwaltung auch aus Sicht der Sieger unumgänglich war, gab es zunächst kaum Initiativen zurWiederbelebung des politischen Lebens in den Dör- fern. 266 So hatten sich in Jüchen bis Mitte September 1945 weder Parteien noch Gewerkschaften oder Arbeiterräte gebildet. Gleiches galt für Hochneukirch, wo CDU, SPD und KPD bis September 1945 ebenfalls allesamt noch nicht in Erscheinung getreten, nach offiziellen Angaben aber „in Bildung begriffen“ waren. Gleiches galt für Garzweiler, während in Bedburdyck im Herbst 1945 zu- mindest eine Partei öffentlich in Erscheinung trat. Zwar sei, so wurde von dort berichtet, „mit Rücksicht auf die bisherigen ein- schränkenden Bestimmungen in politischer Hinsicht im Parteile- ben selbst fast nichts geschehen“, allerdings sei im Bezirk der Gemeinde Bedburdyck die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet worden. Aktive Parteipolitik war aber auch zuvor nicht unbedingt ein Kennzeichen dörflichen Lebens gewesen. In Garzweiler etwa, wo die katholische Zentrumspartei vor 1933 eindeutig dominiert hatte, zählte sie vor der NS-Machtübernahme gerade 18Mitglieder. Die NSDAP schaffte es dann nach 1933 nach dorfinternen Schät- zungen auf immerhin 38 Mitglieder. Auch nach Kriegsende hielt sich der Zulauf zu den neu- oder wiedergegründeten Parteien in eher engen Grenzen. In Bedburdyck zählten die SPD am 26. Januar 1946 gerade elf und die KPD zwölf Mitglieder, während die CDU noch immer nicht in Erscheinung getreten war. Garzweiler erstat- tete hinsichtlich der „Parteifrage“ auch zu diesem Zeitpunkt noch eine komplette „Fehlanzeige“, und auch Jüchen meldete, dass noch immer keine politische Partei ihre Tätigkeit aufgenommen habe. Immerhin wusste man zu berichten, dass die noch nicht offiziell angemeldete örtliche KPD über 16Mitglieder verfügen solle. Und auch in Hochneukirch befanden sich die Parteien nach wie vor „imAufbau“. Die SPD verfügte hier nun über einen provisorischen Vorstand und hatte einen Antrag auf Genehmigung der Grün- dungsversammlung gestellt, diese aber noch nicht abgehalten. Ähn- lich gestaltete sich die Lage bei der KPD, der zu diesemZeitpunkt rund 20 Mitglieder zugerechnet wurden. Die Hochneukircher Zentrumspartei hatte am 1. Oktober 1945 die „vorbereitenden Arbeiten zur Gründung der Ortsgruppe“ aufgenommen, die am 1. Januar 1946 von der Militärregierung genehmigt wurde. Nach- dem die Gründungsversammlung am 4. Januar 1946 stattgefunden hatte, verfügte die Partei am 26. Januar 1946 über immerhin 61 eingeschriebene Mitglieder und war damit die bei Weitem stärkste politische Kraft im Ort. 267 DerMilitärregierung war die Bildung politischer Parteien durch- aus ein Anliegen, denn die angestrebte politische und soziale Ord- nung in einem demokratischen Nachkriegsdeutschland erforderte ein funktionierendes Parteien- und Verbandswesen und eine Be- völkerung, die sich aktiv daran beteiligte. Es wurde angesichts der an Bedeutung schnell zunehmenden „Magenfrage“ jedoch zuse- hends schwieriger, die Menschen für eine politische Partizipation zumobilisieren, was schließlich dazu führte, dass das gesellschaftliche und politische Interesse in den ersten Nachkriegsjahren insgesamt recht gering ausfiel und der Gründungsprozess von Parteien auf den unteren Ebenen eher schleppend vonstattenging. Als Haupt- gründe hierfür galten neben der Konzentration auf das tägliche Überleben zum einen die Erfahrungen der NS-Zeit, zum anderen das Gefühl, den Entscheidungen der alliierten Sieger ausgeliefert zu sein. Schon im August 1945 hatte der US-Geheimdienst bei mehr als 90 Prozent der deutschen Bevölkerung eine ausgeprägte „politische Müdigkeit“ ausgemacht. „Sie ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die überwiegendeMehrheit der Deut- schen überzeugt ist, Politik werde in Zukunft über die Köpfe der Deutschen hinweg gemacht werden. 73 Prozent der Befragten glau- ben nicht an eine deutsche Selbstbestimmung innerhalb der nächsten 15 Jahre. Auf die Frage: ‚Warum wollen sie nichts von Politik wis- sen?‘, antworteten 67 Prozent: ‚Weil Politik zum Krieg führt.‘“ - Entsprechend wenige Menschen zeigten die Bereitschaft, sich poli- tisch zu engagieren, und jene, die das taten, waren zumeist die alt- gedienten Fahrensleute, deren Erfahrungen in der Weimarer Re- publik fußten. Es sollte noch bis in die Mitte der 1950er Jahre dauern, bis die während der NS-Zeit sozialisierte Generation in die Parteien aufrückte und begann, die Politik mitzubestimmen. 268 Entsprechend gering blieb lange Zeit die dörfliche Resonanz auf politische Themen und Veranstaltungen, was am Wahlkampf vor der ersten Landtagswahl im Frühjahr 1947 ablesbar ist. Im April drang angesichts der anstehendenWahlen die „große“ Parteipolitik wohl erstmals wieder in die Dörfer vor. So sprach inHochneukirch am 9. April der Bergheimer Landrat Even im Rahmen einer Veran- staltung der CDU im Gasthof Plum über das Thema „Sozialisie- rung“, am16. April ein Vertreter der KPDüber die „Ziele der KPD“ und drei Tage später ein Redner der SPD über das Thema „Land- tagswahl“. Am 10. April trat ein KPD-Vertreter aus Rheydt im Jü- chener Kino auf und referierte darüber, welche Entscheidungen die Landtagswahl am 20. April bringen würde. Das Interesse der Bevölkerung hielt sich wegen der skizzierten Gründe und weiterer drängender Probleme offenbar in engen Grenzen. Aus dem benachbarten Glehn wurde beispielsweise be- richtet, dass zu einer für den 13. April – immerhin einem Sonntag – anberaumten Veranstaltung der SPD überhaupt kein Besucher erschienen sei, und auch die am gleichen Tag anberaumte CDU- Kundgebung imOrt nur sehr schwachen Zuspruch erfahren habe. Aus anderen Kommunen des Jüchener Umfeldes liegen leider keine derartigen Meldungen vor, doch dürfte die Resonanz überall ähn- lich gering ausgefallen sein. So resümierte dann auch der Greven- broicher Landrat am 29. April 1947, die Bevölkerung habe sich durch die Landtagswahl „nicht beeindrucken lassen, denn sie er- wartet auch von dem neuen Landtag keine Besserung ihrer Le- bensbedingungen“. Immerhin waren imwestlichen Kreisgebiet 72

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