Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

221 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 Prozent derWahlberechtigten zur Urne gegangen, imOstteil waren es sogar 75 Prozent. Das Ergebnis fiel so aus: Es ist hier nicht der Raum für eine tiefergehende Wahlanalyse. Die muss ebenso wie die Untersuchung des politischenNeuanfangs auf Lokalebene sowie der darauf einwirkenden Faktoren einer ei- genständigen Arbeit vorbehalten bleiben. Detaillierte Lokalergeb- nisse für dieWahlen der Jahre 1948 bis 1950 finden sich zur ersten Orientierung imAnhang. Insgesamt aber muss man die politischen Konstellationen und Stimmungen vor Ort imAuge behalten, wenn im Folgenden einzelne Problemfelder des kommunalen Nach- kriegslebens beleuchtet und anschließend die besonders eng mit dem Phänomen „Flucht und Vertreibung“ verknüpften Aspekte analysiert werden. Der „Charakter“ der Orte und ihrer Bewohner Das Leben in den Dörfern der ersten Hälfte des vergangenen Jahr- hunderts kann man nicht mit heutigen Verhältnissen vergleichen. Die Mobilität der Bewohner war damals noch stark eingeschränkt und Massenkommunikation nahezu ein Fremdwort. Die meisten der niederrheinischen Dörfer stellten auch bei Kriegsende noch weitgehend geschlossene Räume dar, in denen man sich kannte und weitgehend „für sich“ lebte. Man wartete sehnsüchtig auf die Rückkehr der Evakuierten und insbesondere der Kriegsgefangenen, um dann wieder das althergebrachte, an „Sitte“, Tradition und Re- ligion orientierte Leben führen zu können. Eine solche Einstellung kollidierte zwangsläufigmit der nach 1945 einsetzendenBevölkerungszunahme, auchwenn die für den Jüchener Raum recht deutlich hinter demDurchschnittswert für das Kreisge- biet zurückblieb. So stieg die Einwohnerzahl im Einzugsbereich der heutigen Gemeinde Jüchen zwischen 1939 und 1950 „nur“ um 23 Prozent, während dieGemeinden der heutigen, Jüchen benachbarten Stadt Korschenbroich eine Zuwachsrate von 26,2 Prozent und der Kreis Grevenbroich eine solche von 30 Prozent aufwiesen. Auffällig ist, dass das Jüchener Gebiet nach einemweiterenmoderatenAnstieg bis 1956 danach bis 1960 sogar einenBevölkerungsrückgang aufwies, der kaum allein auf den Teile des Gemeindegebietes bedrohenden Braunkohleabbau zurückzuführen sein dürfte. Zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit: Im Herbst 1945 charakterisierten die hierzu seitens der Militärregierung aufgefor- derten Bürgermeister und Pfarrer ihre jeweiligen Gemeinden und deren Bewohner. Der Jüchener Bürgermeister Granderath erklärte, dass sich die Bevölkerung seines Amtsbezirks „zu gleichen Teilen“ aus Industriearbeiterschaft und in der Landwirtschaft Beschäftigten zusammensetze. Insgesamt zähle das Amt 13 Ortschaften und elf Einzelgehöfte. Etwa zwei Drittel der Bewohner würden der ka- tholischen, der Rest der evangelischen Konfession angehören. Die vor 1933 etwa 60 bis 70 im Amtsbezirk lebenden Juden waren 1945 ebenso verschwunden wie deren Synagoge, die imNovember 1938 angezündet worden war. Bis September 1945 war nur ein Jüchener Jude aus dem Konzentrationslager in seinen Geburtsort zurückgekehrt. So gab es im Amtsbezirk nur noch je zwei katholi- sche und evangelische Kirchen, acht Schulen (vier katholische und vier evangelische) sowie drei Sportplätze. „In religiöser Hinsicht“, so berichtete der Bürgermeister, seien die Jüchener „konservativ“ eingestellt, „also gottesfürchtig in dem alten Sinne“. Bis 1934 hatte Jüchen ein „Eigenleben“ geführt, bis Mitte des Jahres im Rahmen einer Verwaltungsreform das ländliche Kelzen- berg mit 1.650 Einwohnern eingegliedert worden war. Hatte der Hauptort bis dahin einen stark „industriellen Einschlag“ aufge- wiesen, hielten sich aufgrund der Integration der reinen Landge- meinde seitdem Industrie und Landwirtschaft die Waage. Am 11. März 1937 fasste der Düsseldorfer Regierungspräsident im Zuge einer weiterenNeugliederung schließlich Jüchen und Elfgen - eben- falls eine reine Landgemeinde mit rund 800 Einwohnern - zu einem Amtsbezirk zusammen. 271 Hochneukirch, ein ehemaliges Bauerndorf, hatte sich bis 1945 zu einer stark industrialisierten und weitgehend verstädterten „Ar- beitergemeinde“ gewandelt. 1939 waren lediglich 8,5 Prozent der Ortsbevölkerung in der Landwirtschaft, dagegen 62,3 Prozent in Industrie und Handwerk, weitere 10,9 Prozent im Handel und Verkehr beschäftigt. Diese Zahlen hatten auch 1951 noch weitge- PARTEI WEST OST CDU 11.714 13.714 SPD 8.075 9.039 KPD 2.327 1.884 FDP 899 - Zentrum 2.802 2.759 RVP 256 243 269 „Gruß aus Jüchen“, 1930er Jahre

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