Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

226 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 DIE PROBLEMFELDER Man hatte zunächst ohnehin wahrlich genug mit den lokalen Nachkriegsproblemen zu tun, die das Denken und die Handlungs- optionen der ersten Jahre nach 1945 nachhaltig bestimmten. Die folgende knappe Skizze ausgewählter Problemfelder des frühen Nachkriegsalltags deckt beileibe nicht sämtliche der damals zu be- wältigenden Aufgaben und die damit verbundenen Schwierigkei- ten ab. Sie soll aber Eindrücke von den verschiedenen damaligen Notlagen vermitteln, weil nur vor diesem Hintergrund die Reak- tionen auf die seit Mitte 1946 verstärkt heranrollendenWellen an Flüchtlingen und Vertriebenen verstanden und in ihrer tatsächli- chen Dimension erkannt werden können. Denn die Neuankömm- linge stießen wie in ganz Deutschland so auch am Niederrhein ja keineswegs auf eine intakte Gesellschaft in bereits wieder „blühen- den Landschaften“, sondern auf Regionen, Orte und Menschen, die selbst zumeist noch umOrientierung rangen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen trachteten und sich mit eskalierenden Versorgungsproblemen konfrontiert sahen. All das muss zunächst in gebotener Kürze betrachtet werden, um anschließend besser ver- stehen zu können, wie schwierig sich die Startbedingungen damals sowohl für die Einheimischen als auch – noch vielfach potenziert – für die Geflohenen und Vertriebenen gestalteten. PROBLEMFELD 1: WIEDERAUFBAU UND INFRASTRUKTUR Zunächst ging es darum, die augenfälligsten Kriegsschäden zu behe- ben und insbesondere das lokaleWirtschaftslebenwieder inGang zu bringen. Die bereits an anderer Stelle skizzierten Schäden, die durch denBombenkrieg und dieKämpfe kurz vor der Besetzung entstanden waren, trafen die unmittelbar hiervonBetroffenen zwar empfindlich, beeinträchtigten das ohnehin von Improvisation und Provisorien ge- kennzeichnete Nachkriegsleben aber nicht substantiell. So waren nach Angaben des Amtsbürgermeisters vom 27. April 1945 die öffentliche Infrastruktur und die wirtschaftliche Leis- tungsfähigkeit Jüchens bei Kriegsende offenbar weitgehend intakt. Die elektrischen Freilandleitungen waren zwar stark beschädigt, die Reparaturarbeiten aber bereits im vollen Gang, so dass die Stromversorgung schon kurz nach der Besetzung des Ortes zu ei- nem großen Teil wieder funktionierte. Auch dieWasserversorgung funktionierte weitgehend: Leitungsnetz und Pumpstation waren unbeschädigt, und der durch Beschuss aus der Luft und vomBoden erheblich in Mitleidenschaft gezogene Wasserturm musste zwar instandgesetzt werden, aber das war innerhalb von zwei Wochen zu schaffen. Weil das Wasser aber ohnehin direkt ins Leitungsnetz eingespeist wurde, war die Versorgung der Bevölkerung mit Trink- wasser zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Die örtliche Molkerei war ebenfalls intakt und betriebsbereit. Sie wurde am 13. April 1945 wieder eröffnet und schon zwei Wochen später konnten jedem Einwohner 100 GrammButter zugeteilt werden. Dass sich der Di- rektor als „Alter Kämpfer“ der NSDAP frühzeitig abgesetzt hatte, fiel nicht weiter ins Gewicht, weil der Betriebsleiter die Geschäfts- führung reibungslos übernehmen konnte. 277 Auch in Hochneukirch wurden die Schäden an der lokalen In- frastruktur als „gering“ eingeschätzt. Vor Kriegsbeginn hatte man dort 890 Wohngebäude mit 996 Wohnungen gezählt, von denen bei Kriegsende 257 als beschädigt galten. Allerdings wurden ledig- lich 28 von ihnen mit einem Beschädigungsgrad von über 60 Pro- zent klassifiziert, während 152 Wohneinheiten nur mit 0 bis 15 Prozent als sehr leicht beeinträchtigt galten. Daher gelang es bis zum Jahresende 1948 trotz allerMaterialengpässe und andererWid- rigkeiten immerhin 193 der 257 Häuser wieder völlig herzustellen. Deutlich angespannter war die Lage dagegen in Otzenrath, wo aufgrund der Kämpfe im Februar 1945 besonders der Marktplatz, Vor der Jüchener Molkerei, undatiert

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