Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

231 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 - 800 bis 1.000 Kalorien - kaum sein Dasein fris- ten. An Kohlen wurde monatlich ein Zentner verteilt. Deshalb wurden die Kohlenzüge, die ins Ausland gingen, alle bestohlen. Scharenweise standen die Leute am Bahnhof und warteten auf die Kohlentransporte, trotz der Bewachung. Sämtliche Textilien und Lederwaren mussten auf Bezugsschein bezogen werden und trotzdem gab es sie nicht. Nur durch Schiebungen war etwas zu erhalten. Dazu kam noch der harte Winter 1946/47. Erst mit demWährungsschnitt am 20. Juni 1948 ging es besser. Die Mark wurde wieder stabil.“ 289 In den erstenMonaten nach Kriegsende hatten die Menschen am ländlichen Niederrhein ihren Lebensunterhalt noch weitgehend aus ihren ei- lichen stets zu entscheiden, welche der zahlreichen „Baustellen“ als nächste in Angriff zu nehmen war. Wünsche gab es zuhauf und sie alle waren sicherlich berechtigt. Angesichts des Missverhältnisses von Steuereinnahmen und verfügbaren Haushaltsmitteln sowie der schier bodenlosen Notwendigkeiten galt es jedoch Prioritäten zu setzen, was naturgemäß stets auch Verlierer zurückließ. Zu ihnen zählten sicherlich viele jener Menschen, die als Flüchtlinge und Vertriebene völlig mittellos an den Niederrhein kamen und auf öffentliche und private Hilfe angewiesen waren. Ende 1951 fiel dann aber wohl jedem aufmerksamen Leser des Hochneukircher Amtsblattes auf, dass das Wirtschaftswunder sechseinhalb Jahre nach Kriegsende auch in der niederrheinischen Provinz angekommen war. Es wurde darüber berichtet, dass seitens des „Hochneukircher Handels und Handwerks“ im Kasino der Gaststätte Plum eine große „Weihnachtsausstellung“ mit Tombola veranstaltet würde. Aus diesem Anlass ließen die teilnehmenden Geschäfte und Handwerksbetriebe in zuvor ungeahntem Umfang Werbeinserate im Amtsblatt abdrucken. 288 PROBLEMFELD 2: VERSORGUNG UND ALLTAG Bis dahin lag allerdings ein langer und schwerer Weg hinter der deutschen Nachkriegsbevölkerung, derenHauptaugenmerk insbe- sondere in den Jahren 1946 und 1947 zumeist auf dem reinen Überleben, sprich auf der Sicherstellung der Versorgung mit aus- reichend Nahrungsmitteln und den wichtigsten Gegenständen zur Bestreitung des Alltags lag. Josef Gockel fasste diese Phase 1951 mit Blick auf Hochneukirch so zusammen: „Es war in der größten Notzeit. Die vielen Evakuierten kamen zurück und fanden kaum noch ihr Hausgerät und die Möbel vor. Teilweise waren sogar ihre Wohnungen von anderen besetzt. Alles war rationiert und kaum zu haben. Sämtliche Lebensmittel gingen auf Marken. Ein ‘Nor- malverbraucher’ konnte mit demWenigen, was es auf Marken gab genen Erträgen und Reserven bestreiten können. Große Sorge be- reite mit Blick auf den nahendenWinter zunächst die Versorgung mit Hausbrand, was viele deshalb verwunderte und schließlich verärgerte, weil die Braunkohlegruben sozusagen vor der Haustür lagen. Als aber im Rahmen einer Bürgermeisterversammlung im Kreisständehaus in Grevenbroich am 28. September 1945 die Frage des verfügbaren Brennmaterials erörtert wurde, wurde beklagt, dass die in den Vorwochen zu den Braunkohlegruben geschickten Fuhrwerke leer in die Dörfer zurückgekehrt seien. 290 Andererseits dürfte angesichts des verlorenen Krieges mit seinen ungeheuren Zerstörungen, der zunächst darniederliegenden Wirtschaft und den seit Herbst 1944 vielfach unbestellten Feldern den meisten deutlich vor Augen gestanden haben, dass es auf unterschiedlichen Gebieten über einen längeren Zeitraum zu empfindlichen Eng- pässen kommen würde. Die sollten dann von unterbesetzten und überforderten Gemeindeverwaltungen, denen zudem oftmals Pa- pier und Schreibutensilien fehlten, bewältigen werden. Bezugsscheinsystem Eine der ersten zentralen Aufgaben der kommunalen Verwaltun- gen bestand in der Registrierung der Menschen vor Ort sowie jener, die nun zurückströmten oder neu in die Gemeinden kamen. Diese Arbeiten waren schnellstmöglich zu erledigen und ihr Ergebnis stets auf aktuellem Stand zu halten, waren sie doch die unverzicht- bare Grundlage zur Ausgabe von Lebensmittelmarken und von Be- zugsscheinen für andere rationierteWaren. Der damit verbundene Aufwand lässt sich für die hier imMittelpunkt stehenden Gemein- den nur erahnen. Für Hochneukirch ist zumindest eine Aufstellung der verausgabten Lebensmittelmarken der ersten beiden Nach- kriegsjahre überliefert. Der sich hinter solch nackten Zahlen verbergende Arbeitsauf- wand lässt sich am Beispiel des rund 15 Kilometer entfernten, ebenfalls zum Kreisgebiet zählenden Amtsbezirks Glehn veran- VERAUSGABTE LEBENSMITTELMARKEN DES ERNÄHRUNGSAMTS HOCHNEUKIRCH 291 03.06.1945 31.12.1945 28.12.1946 13.12.1947 Gesamt 2.809 4.849 5.476 5.566 Kinder unter 6 Jahren 210 464 516 476 Jugendliche 6-18 Jahre 517 1.021 1.328 1.437 Erwachsene 2.052 3.364 3.632 3.653 Selbstversorger 242 269 318 337 Normalverbraucher und Teilselbstversorger 2.567 4.580 5.158 5.229

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